Technische Kooperation zwischen ILO und Katar
Vier Jahre Arbeitsreformen in Katar – eine Zwischenbilanz
Zwei neue Berichte der ILO zeigen die erreichten Fortschritte sowie noch bestehende Herausforderungen in der Implementierung von Arbeitsreformen in Katar auf. Im Rahmen der Reformen wurden neue Gesetze verabschiedet und die Arbeitsinspektionssysteme verbessert.

Die jährlichen Fortschrittsberichte sowie der Vierjahresbericht beschreiben die substanziellen Anstrengungen, die im Bereich der Regelung von Arbeitsmigration, der Durchsetzung von Arbeitsrecht, dem Zugang zum Rechtsweg sowie der Stärkung von Arbeitnehmer*innen und sozialem Dialog unternommen wurden.
Diese Veränderungen haben bereits das Leben und die Arbeitsbedingungen von hunderttausenden von Arbeitnehmer*innen verbessert. Nichtsdestotrotz sind zusätzliche Anstrengungen notwendig, um sicherzustellen, dass alle Arbeitnehmer*innen von den Veränderungen profitieren können.
Wir haben uns mit Katar auf eine lange Reise begeben – und die Reformen und die Kooperation mit der internationalen Gemeinschaft sind in der Tat bedeutend für die gesamte Region. Wir alle wissen, dass wir noch nicht am Ziel angekommen sind, und werden auf dieser soliden Grundlage aufbauen, um Lücken in der Durchsetzung zu adressieren und sicherzustellen, dass alle Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen in vollem Umfang von diesen wichtigen Reformen profitieren können.“
Ruba Jaradat, ILO-Regionaldirektor für die arabischen Staaten
Freie Wahl des Arbeitsplatzes
Arbeitnehmer*innen in Katar brauchten früher die Erlaubnis ihrer Arbeitgeber*innen, um den Arbeitsplatz wechseln oder das Land verlassen zu können. Dies waren die problematischsten Elemente des Kafala-Systems, das zu übermäßigen Abhängigkeiten der Arbeitnehmer*innen von ihren Arbeitgeber*innen führte und Spielräume für Ausbeutung und Zwangsarbeit schaffte.Seit dem Beginn der Reformen vor zwei Jahren hat das Arbeitsministerium von Katar rund 350 000 Anträgen von Arbeitsmigrant*innen, die den Arbeitsplatz wechseln wollten, zugestimmt. Gleichwohl sind viele Arbeitnehmer*innen immer noch mit Hindernissen konfrontiert, wenn sie eine Arbeit kündigen und zu einer neuen wechseln wollen, darunter Vergeltungsmaßnahmen vonseiten der Arbeitgeber*innen.
Lohnzahlungen
Im März 2021 hat Katar als erster Staat in der Golfregion einen nichtdiskriminierenden Mindestlohn eingeführt, der für alle Arbeitnehmer*innen aller Nationalitäten in allen Sektoren – einschließlich Hausarbeit – gilt. Für insgesamt 13 Prozent der Beschäftigten – 280 000 Menschen – stiegen die Löhne seit der Einführung der neuen Gesetzgebung auf die neue Mindestgrenze an.Außerdem wurden Arbeitgeber*innen verpflichtet, Lohnzahlungen über katarische Banken abzuwickeln, um so dem Arbeitsministerium zu erlauben, die Zahlungen zu überwachen und Missbrauch zu verringern. Strafen für die Nichtzahlung von Löhnen wurden erhöht und werden strikter durchgesetzt. Ein entsprechender Fonds der Regierung hat seit 2019 350 Mio. USD ausgezahlt. Diese Zahl zeigt den Umfang von unbezahlten Löhnen im Land.
Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit & Arbeitsinspektion
Zu den wichtigsten Prioritäten des Programms gehört die Frage der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz.Neue Gesetze bieten Arbeitnehmer*innen in Katar größeren Schutz gegenüber Hitzestress, indem sie Arbeit unter freiem Himmel zwischen 1. Juni und 15. September im Zeitraum zwischen 10 Uhr und 15:30 Uhr verbieten – bei weitem die höchste Anzahl an verbotenen Arbeitsstunden in der Golfregion. Die Gesetze bestimmen zudem einen Grenzwert, ab welchem jegliche Arbeit unter freiem Himmel eingestellt werden muss, egal zu welcher Tages- oder Jahreszeit.
Arbeitsinspektionen im Sommer 2021 und 2022 haben zur Einstellung der Arbeiten auf 338 bzw. 463 Baustellen aufgrund der Nichteinhaltung der Schutzzeiten geführt.
Als Resultat der neuen Gesetzgebung und der Inspektionsmaßnahmen ist ein signifikanter Rückgang der mit Hitzestress ins Krankenhaus eingewiesenen Patient*innen zu verzeichnen. Im Sommer 2022 wurden insgesamt 351 Patient*innen eingewiesen, verglichen mit 1520 Patient*innen im Jahr 2020, bevor die neue Gesetzgebung eingeführt wurde. Somit hat sich die Zahl der hitzebedingten Einweisungen in zwei Jahren um 77% reduziert.
In Bezug auf Unfälle und Verletzungen am Arbeitsplatz hat die ILO mit der Regierung und anderen Schlüsselinstitutionen in Katar zusammengearbeitet und in einem Bericht die bisher umfassendsten nationalen Daten zu diesem Thema für das Jahr 2020 herausgegeben. Der Bericht identifiziert außerdem eine Reihe von Lücken in der Datenerhebung und gibt 20 Empfehlungen, um die Datenerhebung zu verbessern.
Zugang zum Rechtsweg
Vor der Umsetzung der jüngsten Arbeitsreformen hatten Arbeitnehmer*innen nur begrenzte Mittel, um im Streitfall mit ihren Arbeitgeber*innen Beschwerden einzureichen. In den letzten Jahren hat Katar Schritte unternommen, um den Zugang zur Justiz für Arbeitnehmer*innen zu verbessern. So hat die Regierung neue Arbeitsgerichte zur Beilegung von Konflikten eingerichtet und eine neue Online-Plattform gestartet, auf der Arbeitnehmer*innen Beschwerden einreichen können.Die Zahl der Beschwerden von Arbeitnehmer*innen hat sich mehr als verdoppelt, was vor allem auf den leichteren Zugang zu Beschwerdeverfahren über die Online-Plattform zurückzuführen ist. Zwischen Oktober 2021 und Oktober 2022 erhielt das Arbeitsministerium 34 425 Beschwerden von Arbeitnehmer*innen, von denen sich ein Großteil auf nicht gezahlte Löhne bezog. 66.5% aller Beschwerden wurden bereits vor oder während eines Schlichtungsverfahrens beigelegt. Knapp 31% der Beschwerden wurden an die Arbeitsgerichte übermittelt, die in 84% der Fälle zugunsten der Arbeitnehmer*innen entschieden.
Eine Stimme für Arbeitnehmer*innen
Die Gesetze in Katar erlauben es ausländischen Arbeitnehmer*innen nicht Gewerkschaften zu gründen oder ihnen beizutreten. Vor den Reformen waren der Sozialdialog und die Repräsentation von Arbeitnehmer*innen äußerst beschränkt. Neue Gesetze haben zur Einrichtung von gemeinsamen Komitees von Arbeitnehmer*innen und Management auf Unternehmensebene geführt. Das Gesetz, das die Wahl von Repräsentant*innen der Arbeitsmigrant*innen vorsieht, ist ein Novum in der Region.Bis heute haben über 70 Firmen solche gemeinsamen Komitees eingeführt, in denen 613 Arbeitnehmer*innen nun über 40 000 Angestellte repräsentieren. Dutzende weiterer Firmen wurden fortgebildet, um in Zukunft Wahlen abzuhalten.
Noch bestehende Herausforderungen
Die Berichte heben hervor, dass es allgemein anerkannt ist, dass mehr getan werden muss, um die Arbeitsreformen vollständig anzuwenden und durchzusetzen. Sie stellen fest, dass zu den obersten Prioritäten der ILO die Notwendigkeit gehört, dafür zu sorgen, dass alle Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen von den Reformen des Kafala-Systems zur Arbeitsmobilität profitieren können. Außerdem müssen der Zugang zum Rechtsweg und die Einforderung fälliger Löhne weiter erleichtert werden und das Gesetz über die Rechte von Hausangestellten vollständig umgesetzt werden. Die ILO wird die Zusammenarbeit mit der Regierung, den Arbeitnehmer*innen und den Arbeitgeber*innen fortsetzen, um die Angleichung der katarischen Gesetze und Praktiken an internationale Arbeitsstandards weiter zu unterstützen.Hintergrund
Im Jahr 2014 reichten die internationalen Gewerkschaften gegen Katar im Rahmen des Beschwerdemechanismus der ILO Beschwerde wegen Nichteinhaltung der Kernarbeitsnormen ein. Im Kern standen Anschuldigungen, dass das „Kafala“- oder „Sponsoren“-System Ausbeutung und Zwangsarbeit ermöglicht und dass die regulatorischen Strukturen im Land Verletzungen von Arbeitsrechten nur unzureichend aufdeckten und beilegten.Diese Beschwerde löste eine Reihe von Mechanismen im Überwachungssystem der ILO aus, darunter die Entscheidung der ILO-Verwaltungsrats, einen hochrangig besetzten dreigliedrigen Untersuchungsausschuss nach Katar zu entsenden. Nach intensiven Verhandlungen einigten sich Katar und die ILO auf ein Arbeitsprogramm, um große Arbeitsreformen durchzuführen. Dieses Arbeitsprogramm wurde vom ILO-Verwaltungsrat verabschiedet und führte zur Beendigung des Beschwerdeverfahrens im Jahr 2017. Im April 2018 eröffnete die ILO ihr Projektbüro in Doha. Seitdem hat das Büro drei Jahre lang dem Verwaltungsrat über die Aktivitäten vor Ort berichtet.
Die Reformen stehen im Einklang mit der „National Vision 2030“ des Landes, die unter anderem die Entwicklung einer wettbewerbsfähigen, diversifizierten und wissensbasierten Wirtschaft zum Ziel hat.