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Empfehlung 116
Empfehlung betreffend die Verkürzung der Arbeitszeit
Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation,
die vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 6. Juni 1962 zu ihrer sechsundvierzigsten Tagung zusammengetreten ist,
hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend die Arbeitszeit, eine Frage, die den neunten Gegenstand ihrer Tagesordnung bildet, und
dabei bestimmt, daß diese Anträge die Form einer Empfehlung erhalten sollen, die darauf abzielt, die bestehenden internationalen Urkunden über die Arbeitszeit zu ergänzen und ihre Durchführung zu erleichtern,
indem sie die praktischen Maßnahmen für eine schrittweise Verkürzung der Arbeitszeit angibt, unter Berücksichtigung sowohl der verschiedenartigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den einzelnen Ländern als auch der verschiedenartigen innerstaatlichen Gepflogenheiten hinsichtlich der Regelung der Arbeitszeit und anderer Arbeitsbedingungen,
indem sie in großen Zügen die Methoden angibt, mit deren Hilfe diese praktischen Maßnahmen angewendet werden können,
indem sie die Vierzigstundenwoche, deren Grundsatz in dem Übereinkommen über die Vierzigstundenwoche, 1935, festgelegt ist, als soziale Norm bezeichnet, die nötigenfalls etappenweise zu erreichen ist, und eine Höchstgrenze der Normalarbeitszeit in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen über die Arbeitszeit (Gewerbe), 1919, festsetzt.
Die Konferenz nimmt heute, am 26. Juni 1962, die folgende Empfehlung an, die als Empfehlung betreffend die Verkürzung der Arbeitszeit, 1962, bezeichnet wird.
I. Allgemeine Grundsätze
1. Jedes Mitglied sollte eine innerstaatliche Politik festlegen und verfolgen, die darauf abzielt, mit Methoden, die den innerstaatlichen Verhältnissen und Gepflogenheiten sowie den Verhältnissen in jedem Wirtschaftszweig entsprechen, die Anerkennung des Grundsatzes der schrittweisen Verkürzung der Normalarbeitszeit gemäß Absatz 4 zu fördern.
2. Jedes Mitglied sollte die Anwendung des Grundsatzes der schrittweisen Verkürzung der Normalarbeitszeit gemäß Absatz 4 mit den Mitteln, die den bestehenden oder gegebenenfalls einzuführenden Verfahren für die Regelung der Arbeitszeit entsprechen, fördern und, soweit dies mit den innerstaatlichen Verhältnissen und Gepflogenheiten vereinbar ist, sicherstellen.
3. Der Grundsatz der schrittweisen Verkürzung der Arbeitszeit kann durch gesetzliche und andere Vorschriften, durch Gesamtarbeitsverträge oder Schiedssprüche, durch eine Verbindung dieser Methoden oder auf irgendeine andere, den innerstaatlichen Gepflogenheiten entsprechende Art und Weise angewendet werden, je nachdem, welche Methode den innerstaatlichen Verhältnissen und den Bedürfnissen jedes Wirtschaftszweiges am besten entspricht.
4. Die Normalarbeitszeit sollte, wenn dies angebracht ist, im Hinblick auf die Erreichung der in der Präambel dieser Empfehlung bezeichneten sozialen Norm schrittweise verkürzt werden, ohne daß die Löhne der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Arbeitszeitverkürzung irgendeine Verminderung erfahren.
5. Überschreitet die Normalarbeitswoche achtundvierzig Stunden, so sollten sofortige Maßnahmen getroffen werden, um sie auf diese Stundenzahl herabzusetzen, ohne daß die Löhne der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Arbeitszeitverkürzung irgendeine Verminderung erfahren.
6. Beträgt die wöchentliche Normalarbeitszeit achtundvierzig Stunden oder weniger, so sollten Maßnahmen zur schrittweisen Verkürzung der Arbeitszeit gemäß Absatz 4 vorgesehen und in einer den besonderen Verhältnissen jedes Landes und jedes Wirtschaftssektors entsprechenden Weise durchgeführt werden.
7. Diese Maßnahmen sollten berücksichtigen:
a) die Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung und die Möglichkeiten des betreffenden Landes, eine kürzere Arbeitszeit einzuführen, ohne dabei die Gesamtproduktion und die Produktivität zu verringern oder das wirtschaftliche Wachstum, die Entwicklung neuer Industrien oder die Wettbewerbsstellung des Landes auf dem internationalen Markt zu gefährden und ohne einen inflationären Druck hervorzurufen, der letzten Endes zu einem Sinken des Realeinkommens der Arbeitnehmer führen würde;
b) die Fortschritte in der Produktivitätssteigerung, die durch die Anwendung der modernen Technologie, der Automation und der Methoden rationeller Betriebsführung bereits erzielt wurden und erzielt werden können;
c) die Notwendigkeit, in den noch in Entwicklung stehenden Ländern den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben;
d) die Wünsche der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände in den beteiligten Wirtschaftszweigen in bezug auf die Art und Weise, in der die Arbeitszeitverkürzung erfolgen könnte.
8. (1) Der Grundsatz der schrittweisen Verkürzung der Normalarbeitszeit, wie er in Absatz 4 ausgedrückt ist, kann in Etappen verwirklicht werden, ohne daß diese auf internationaler Ebene festgelegt zu werden brauchen.
(2) Diese Etappen können umfassen:
a) eine zeitliche Staffelung;
b) eine schrittweise Einbeziehung einzelner Zweige oder Sektoren der Volkswirtschaft;
c) eine Verbindung der beiden vorgenannten Verfahren oder
d) irgendein anderes Verfahren, das den innerstaatlichen Verhältnissen und den Verhältnissen jedes Wirtschaftssektors am besten zu entsprechen scheint.
9. Bei der Durchführung der Maßnahmen zur schrittweisen Verkürzung der Arbeitszeit sollten jene Wirtschaftszweige und Berufe den Vorrang erhalten, die für die beteiligten Arbeitnehmer eine besonders schwere körperliche oder geistige Beanspruchung oder eine gesundheitliche Gefährdung mit sich bringen, insbesondere, wenn vorwiegend Frauen und Jugendliche beschäftigt werden.
10. Jedes Mitglied sollte dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes in geeigneten Zeitabständen die bei der Durchführung der Bestimmungen dieser Empfehlung erzielten Ergebnisse zusammen mit allen näheren Angaben, die der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes gegebenenfalls verlangt, zur Kenntnis bringen.
II. Durchführungsverfahren
A. Begriffsbestimmung
11. Als Normalarbeitszeit im Sinne dieser Empfehlung gilt die durch Gesetzgebung, Gesamtarbeitsvertrag oder Schiedsspruch oder in deren Durchführung festgesetzte Stundenzahl oder, falls diese nicht so festgesetzt wurde, diejenige Stundenzahl, nach deren Überschreitung jede geleistete Arbeit mit dem Satz für Überstunden vergütet wird oder eine Ausnahme von den anerkannten, für den betreffenden Betrieb oder die betreffende Arbeit geltenden Regeln oder Gewohnheiten bildet.
B. Bestimmung der Arbeitszeit
12. (1) Die Berechnung der Normalarbeitszeit als Durchschnitt für einen Zeitraum von mehr als einer Woche sollte dann gestattet sein, wenn besondere Verhältnisse in bestimmten Wirtschaftszweigen oder technische Erfordernisse dies rechtfertigen.
(2) Die zuständige oder eine sonstige befugte Stelle in jedem Lande sollte die Höchstdauer des Zeitraumes festsetzen, für den eine durchschnittliche Arbeitszeit berechnet werden kann.
13. (1) Für Arbeiten, die ihrer Natur nach einen ununterbrochenen Fortgang mit Schichtenwechsel erfordern, können Sonderregelungen vorgesehen werden.
(2) Diese Sonderregelungen sollten so gestaltet werden, daß die durchschnittliche Normalarbeitszeit bei solchen ununterbrochenen Arbeiten in keinem Fall die für die betreffende Wirtschaftstätigkeit festgelegte Normalarbeitszeit überschreitet.
C. Ausnahmen
14. Die zuständige oder eine sonstige befugte Stelle jedes Landes sollte bestimmen, unter welchen Umständen und in welchen Grenzen Ausnahmen von der Normalarbeitszeit zugelassen werden können, und zwar
a) dauernd:
i) für Arbeiten, die ihrem Wesen nach Unterbrechungen mit sich bringen;
ii) für Sonderfälle, in denen das öffentliche Interesse dies erfordert;
iii) für Arbeiten, die aus technischen Gründen außerhalb der für die Tätigkeit des Betriebs, des Betriebsteils oder der Schicht festgesetzten Zeitgrenzen ausgeführt werden müssen;
b) vorübergehend:
i) wenn eine Betriebsstörung eingetreten ist oder droht;
ii) wenn dringende Arbeiten an Maschinen oder Betriebsanlagen vorzunehmen sind;
iii) in Fällen höherer Gewalt;
iv) bei außergewöhnlichem Arbeitsanfall;
v) zum Nachholen von Arbeitsstunden, die wegen kollektiver Arbeitsunterbrechungen infolge von Materialbeschädigung, Ausfall der Antriebskraft, Schlechtwetter, Mangel an Werkstoffen oder Transportmitteln oder infolge von Unglücksfällen ausgefallen sind;
c) periodisch:
i) zur Aufstellung von jährlichen Inventuren und Bilanzen;
ii) für bestimmte saisonbedingte Arbeiten.
15. Überschreitet die Normalarbeitszeit achtundvierzig Wochenstunden, so sollte die zuständige oder eine sonstige befugte Stelle vor der Bewilligung von Ausnahmen für die in Absatz 14 Unterabsatz a) i) und iii), Unterabsatz b) iv) und v) und Unterabsatz c) i) und ii) vorgesehenen Fälle sorgfältig prüfen, ob diese Ausnahmen wirklich notwendig sind.
D. Überstunden
16. Alle Arbeitsstunden, die über die Normalarbeitszeit hinaus geleistet werden, sollten als Überstunden gelten, sofern diese Stunden nicht üblicherweise bei der Festsetzung des Lohnes berücksichtigt werden.
17. Die Gesamtzahl der Überstunden, die innerhalb einer bestimmten Zeitspanne geleistet werden dürfen, sollte, abgesehen von den Fällen höherer Gewalt, durch die zuständige oder eine sonstige befugte Stelle jedes Landes begrenzt werden.
18. Bei der Anordnung von Überstunden sollte die besondere Lage der Jugendlichen unter achtzehn Jahren und der werdenden und stillenden Mütter sowie der behinderten Personen gebührend berücksichtigt werden.
19. (1) Überstunden sollten zu einem höheren Satz beziehungsweise zu höheren Sätzen vergütet werden als die Normalarbeitszeit.
(2) Der Lohnsatz beziehungsweise die Lohnsätze für Überstunden sollten durch die zuständige oder eine sonstige befugte Stelle jedes Landes festgesetzt werden, doch sollte der Satz auf keinen Fall niedriger sein als der in Artikel 6 Absatz 2 des Übereinkommens über die Arbeitszeit (Gewerbe), 1919, festgelegte Satz.
E. Anhörung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer
20. (1) Die zuständige Stelle sollte die maßgebenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände bei Fragen, die mit der Durchführung dieser Empfehlung zusammenhängen, regelmäßig anhören.
(2) Dies sollte insbesondere in folgenden Fällen geschehen, sofern deren Regelung der zuständigen Stelle jedes Landes überlassen bleibt:
a) die in Verbindung mit Absatz 8 zu treffenden Maßnahmen;
b) die Höchstdauer des Zeitraumes, für den die durchschnittliche Arbeitszeit nach Absatz 12 berechnet werden kann;
c) die nach Absatz 13 gegebenenfalls zu erlassenden Bestimmungen über Arbeiten, die einen ununterbrochenen Fortgang mit Schichtenwechsel erfordern;
d) die Ausnahmen nach Absatz 14;
e) die Begrenzung und Vergütung der Überstunden nach den Absätzen 17 und 19.
F. Kontrollmaßnahmen
21. Zum Zwecke der wirksamen Durchführung der zur schrittweisen Verkürzung der Arbeitszeit ergriffenen Maßnahmen nach den Absätzen 4 und 5
a) sollten geeignete Maßnahmen getroffen werden, welche die ordnungsgemäße Durchführung der Bestimmungen über die Arbeitszeit durch eine angemessene Aufsicht oder durch sonstige Mittel sicherstellen;
b) sollten die Arbeitgeber verpflichtet sein, durch Anschlag im Betrieb oder auf eine andere von der zuständigen Stelle genehmigte Weise den beteiligten Arbeitnehmern bekanntzugeben:
i) Beginn und Ende der Arbeitszeit;
ii) bei Schichtarbeit Beginn und Ende jeder Schicht;
iii) die Ruhepausen, die nicht als Normalarbeitszeit gelten;
iv) die Tage der Woche, an denen gearbeitet wird;
c) sollten die Arbeitgeber verpflichtet sein, auf eine von der zuständigen Stelle genehmigte Weise ein Verzeichnis über die Arbeitszeit, die Löhne und die Überstunden für jeden Arbeitnehmer zu führen und dieses Verzeichnis auf Verlangen zur Nachprüfung vorzulegen;
d) sollte für solche Zwangsmaßnahmen Vorsorge getroffen werden, die im Hinblick auf die Art und Weise, in der diese Empfehlung durchgeführt wird, geeignet erscheinen.
G. Allgemeine Bestimmungen
22. Durch diese Empfehlung werden weder Gesetze, Vorschriften, Schiedssprüche, Gewohnheiten oder Verträge noch der Verlauf von Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern berührt, die den Arbeitnehmern günstigere Bedingungen zusichern oder zuzusichern bestimmt sind.
23. Diese Empfehlung gilt nicht für die Landwirtschaft, die Seeschiffahrt und die Seefischerei. Für diese Wirtschaftszweige sollten besondere Bestimmungen vorgesehen werden.