Empfehlung 79
Empfehlung betreffend die ärztliche Untersuchung der Eignung von Kindern und Jugendlichen zur Arbeit
Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation,
die vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes nach Montreal einberufen wurde und am 19. September 1946 zu ihrer neunundzwanzigsten Tagung zusammengetreten ist,
hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend die ärztliche Untersuchung der Eignung von Kindern und Jugendlichen zur Arbeit, eine Frage, die zum dritten Gegenstand ihrer Tagesordnung gehört.
Nach Annahme von Übereinkommen über die ärztliche Untersuchung der Eignung von Kindern und Jugendlichen zur Arbeit im Gewerbe und zu nichtgewerblichen Arbeiten
hat die Konferenz beschlossen, diese Übereinkommen durch eine Empfehlung zu ergänzen.
Die Konferenz nimmt heute, am 9. Oktober 1946, die folgende Empfehlung an, die als Empfehlung betreffend ärztliche Untersuchung Jugendlicher, 1946, bezeichnet wird.
Die Konferenz geht davon aus, daß die Übereinkommen über die ärztliche Untersuchung Jugendlicher, 1946, die Grundlagen einer Regelung über die ärztliche Eignungsprüfung zum Schutze der Gesundheit der Kinder und der Jugendlichen gegen die Gefahren ungeeigneter Arbeit schaffen, aber die Wahl der praktischen Verfahren im einzelnen der innerstaatlichen Gesetzgebung überlassen.
Die Konferenz stellt fest, daß zwar praktische Anpassungen des Verfahrens der ärztlichen Untersuchungen zugelassen sind, damit dieses in das allgemeine Verwaltungssystem der einzelnen Mitgliedstaaten eingebaut werden kann, daß aber die Gewährleistung einer angemessen einheitlichen Durchführung der Übereinkommen erwünscht erscheint, um den Schutz der Kinder und der Jugendlichen, der den Zweck dieser Übereinkommen bildet, auf dem höchstmöglichen Stande zu erhalten.
Die Konferenz erachtet es ferner für erwünscht, allen Mitgliedern die Verfahren zur Kenntnis zu bringen, die in bestimmten Staaten befriedigende Ergebnisse gezeitigt haben und die den Mitgliedern als Richtlinien dienen könnten. Die Konferenz empfiehlt demgemäß den Mitgliedern, die folgenden Bestimmungen anzuwenden, sobald die einzelstaatlichen Voraussetzungen es gestatten, und dem Internationalen Arbeitsamt in der vom Verwaltungsrat festzusetzenden Weise über die zu ihrer Verwirklichung getroffenen Maßnahmen zu berichten.
I. Geltungsbereich der Regelung
1. Die Bestimmungen des Übereinkommens über die ärztliche Untersuchung Jugendlicher (nichtgewerbliche Arbeiten), 1946, sollten auf alle in den nachstehend bezeichneten öffentlichen oder privaten Betrieben oder Diensten oder in Verbindung mit ihnen ausgeführten Arbeiten angewendet werden:
a) Handelsbetriebe, einschließlich Zustellungsdienste,
b) Post und Fernverständigungsdienste, einschließlich Zustellungsdienste,
c) Betriebe und Verwaltungen, in denen Büroarbeit überwiegt,
d) Presseunternehmen (Redaktion, Verteilung, Zustellungsdienste und Zeitungseinzelverkauf auf Straßen oder an allgemein zugänglichen Orten),
e) Hotels, Pensionen, Gastwirtschaften, Klubs, Kaffeehäuser und andere Betriebe, in denen Speisen oder Getränke an Gäste verabreicht werden, sowie gegen Lohn verrichtete häusliche Dienste in Privathaushaltungen,
f) Betriebe, die der Behandlung oder Unterbringung von Kranken, Gebrechlichen oder Bedürftigen und von Waisen dienen,
g) Theater- und andere Vergnügungsbetriebe,
h) Handel im Umherziehen, Hausierhandel mit Gegenständen jeder Art und alle anderen Beschäftigungen oder Dienste, die auf Straßen oder an allgemein zugänglichen Orten ausgeübt werden,
i) alle anderen Arbeiten, Beschäftigungen und Dienste, die nicht gewerblicher, landwirtschaftlicher oder seemännischer Art sind.
2. Unbeschadet der den Mitgliedern im Übereinkommen über die ärztliche Untersuchung Jugendlicher (nichtgewerbliche Arbeiten), 1946, belassenen Möglichkeit, von dessen Geltungsbereich die Arbeit in Familienbetrieben auszunehmen, in denen nur die Eltern und ihre Kinder oder Pflegekinder tätig sind, soweit es sich um Arbeit handelt, die für die Gesundheit der Kinder und der Jugendlichen nicht als gefährlich zu gelten hat, sollten die Regierungen die Tatsache berücksichtigen, daß unter allgemeinen Gesichtspunkten ungefährliche Arbeiten doch mit Gefahren für bestimmte Personen verbunden sein können, denen die notwendigen Fähigkeiten für eine gegebene Arbeit oder zur Arbeit überhaupt fehlen. Deshalb sollten die Regierungen darauf hinwirken, die Regelung über die ärztliche Eignungsprüfung auf alle auf Gewinn gerichteten Arbeiten zu erstrecken, ungeachtet des Verwandtschaftsverhältnisses der bei solchen Arbeiten beschäftigten Personen.
II. Maßnahmen betreffend die ärztlichen Untersuchungen
3. Unbeschadet der ärztlichen Untersuchung bei Arbeitsaufnahme zur Feststellung der Eignung des Kindes oder Jugendlichen für eine gegebene Arbeit nach Artikel 2 der genannten Übereinkommen sollten alle Kinder, vorzugsweise vor Ende der Schulpflicht, einer allgemeinen ärztlichen Untersuchung unterzogen werden, deren Ergebnisse von den Berufsberatungsstellen verwertet werden können.
4. Die gründliche ärztliche Untersuchung, die bei Arbeitsaufnahme vorgenommen werden muß, sollte
a) alle zur Feststellung der Eignung oder Nichteignung für die fragliche Arbeit dienlichen klinischen, radiologischen und Laboratoriumsuntersuchungen umfassen,
b) in jedem Fall durch angemessene Beratung über Gesundheitspflege ergänzt werden.
5. Die regelmäßig zu wiederholenden Untersuchungen sollten
a) in der gleichen Weise wie die Untersuchung bei Arbeitsaufnahme vorgenommen werden,
b) durch angemessene Beratung über Gesundheitspflege und, wenn erforderlich, durch zusätzliche Berufsberatung im Hinblick auf einen Wechsel der Arbeit ergänzt werden.
6. (1) Die Ergebnisse der Untersuchung sollten vollständig auf eine Indexkarte eingetragen werden, die bei den Akten der für die Vornehme der Untersuchungen verantwortlichen ärztlichen Dienste aufzubewahren ist.
(2) Die zur Mitteilung an den Arbeitgeber bestimmten Angaben in dem ärztlichen Zeugnis oder die Vermerke über die ärztliche Untersuchung auf der Arbeitskarte oder im Arbeitsbuch sollten deutlich genug sein, um die bei der Untersuchung festgestellten Grenzen der Arbeitseignung und die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen anzuzeigen, die in bezug auf die Arbeitsbedingungen zu treffen sind. Doch sollten diese Angaben niemals vertrauliche Auskünfte enthalten, wie die Diagnose von angeborenen Mängeln oder Krankheiten, welche die Untersuchung aufgedeckt hat.
7. (1) Da die Entwicklung in den meisten Fällen mit dem achtzehnten Lebensjahr nicht abgeschlossen ist und demgemäß das Bedürfnis nach einem besonderen Schutz weiterbesteht, wäre es erwünscht, die pflichtmäßige ärztliche Untersuchung aller bei gewerblichen oder nichtgewerblichen Arbeiten beschäftigten jugendlichen Arbeitnehmer mindestens bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr zu erstrecken.
(2) Die Höhe der Gefahr, die es rechtfertigt, daß die ärztliche Untersuchung nach Artikel 4 der genannten Übereinkommen bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr erstreckt wird, ist mindestens in weitem Sinn auszulegen. Dabei sollten insbesondere alle Arbeiten im Bergbau, in Krankenhäusern und bei öffentlichen Darbietungen wie Tanz und Akrobatik erfaßt werden.
8. Der vorstehende Absatz sollte nicht so ausgelegt werden, als ob dadurch die Verpflichtung zur Anwendung der Vorschriften internationaler Übereinkommen oder der innerstaatlichen Gesetzgebung betroffen würde, welche die Beschäftigung Jugendlicher bei bestimmten Arbeiten mit hohen Gefahren für die Gesundheit verbieten oder die Überwachung der Gesundheit aller bei solchen Arbeiten tätigen Personen ungeachtet ihres Alters vorsehen.
III. Maßnahmen betreffend Personen, die bei der Untersuchung als zur Arbeit ungeeignet oder nur begrenzt geeignet befunden werden
9. Die Maßnahmen der einzelstaatlichen Behörden zur Durchführung von Artikel 6 der genannten Übereinkommen sollten insbesondere Maßnahmen einschließen, die sicherstellen, daß Kinder und Jugendliche, bei denen die ärztliche Untersuchung körperliche Fehler oder Mängel oder allgemeine Arbeitsunfähigkeit ergeben hat,
a) die notwendige ärztliche Behandlung erhalten, um ihre Fehler oder Mängel zu beheben oder zu mildern,
b) zur Wiederaufnahme des Schulbesuches ermutigt oder geeigneten, ihren Wünschen und Fähigkeiten entsprechenden Arbeiten zugeführt werden, wobei für sie Gelegenheiten zur Ausbildung für solche Arbeiten vorzusehen sind,
c) während der Dauer der ärztlichen Behandlung, des Schulbesuches oder der beruflichen Ausbildung erforderlichenfalls Geldbeihilfen erhalten.
10. Um Kinder und Jugendliche, bei denen die ärztliche Untersuchung geschwächte körperliche Widerstandskraft oder bestimmte Mängel ergeben hat, leichter den für sie geeigneten Arbeiten zuführen zu können, sollten durch berufene Fachleute unter gemeinsamer Verantwortung der ärztlichen und der für Arbeitsfragen zuständigen Dienste Verzeichnisse der Berufe und Arbeiten angelegt werden, die für die einzelnen Gruppen schwächlicher oder an körperlichen Mängeln leidender jugendlicher Arbeitnehmer geeignet sind. Diese Verzeichnisse sollten den die Untersuchung vornehmenden Ärzten als Richtlinien dienen, ohne für sie bindend zu sein.
IV. Verantwortliche Behörden
11. (1) Zur Gewährleistung einer vollen Wirksamkeit der ärztlichen Untersuchung jugendlicher Arbeitnehmer sollten Maßnahmen zur Ausbildung eines Stabes von Untersuchungsärzten getroffen werden, die Schulung auf dem Gebiet der Gewerbehygiene und umfassende Erfahrung in den die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen betreffenden ärztlichen Fragen besitzen.
(2) Die zuständige Stelle sollte dafür sorgen, daß zu diesem Zwecke Lehrgänge und praktische Studien stattfinden.
(3) Die Untersuchungsärzte sollten auf Grund der in Unterabsatz (1) angegebenen Befähigungen ausgewählt werden.
12. Das System der ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Arbeitseignung sollte so verwaltet werden, daß eine enge Zusammenarbeit zwischen den ärztlichen Untersuchungsdiensten und den für die Erteilung der Arbeitsermächtigung an Kinder und Jugendliche sowie für die Überwachung ihrer Arbeitsbedingungen zuständigen Diensten gewährleistet ist.
V. Durchführungsverfahren
13. (1) Um die ordnungsmäßige Durchführung der ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Arbeitseignung der Kinder und der Jugendlichen zu gewährleisten, die entweder in einem gewerblichen oder in einem nichtgewerblichen Betriebe selbst oder im Zusammenhang mit ihm beschäftigt sind, sollte der Arbeitgeber verpflichtet sein, eine bestimmte Behörde von der Einstellung jedes jugendlichen Arbeitnehmers unter der für die Untersuchung vorgeschriebenen gesetzlichen Altersgrenze zu verständigen.
(2) Diese Behörde sollte entweder sein
a) der ärztliche Dienst, der für die Vornahme der Untersuchungen und die Führung lückenloser Aufzeichnungen über ihre Ergebnisse verantwortlich ist, oder
b) der Dienst, der die Befugnis hat, auf Grund der Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung die Ermächtigung für die Beschäftigung eines Kindes oder eines Jugendlichen zu erteilen.
14. Um die Gewähr zu bieten, daß die ärztliche Untersuchung über die Arbeitseignung der Kinder und der Jugendlichen, die für eigene Rechnung oder für Rechnung ihrer Eltern im Umherziehen oder in einem anderen auf Straßen oder an allgemein zugänglichen Orten ausgeübten Beruf tätig sind, ordnungsgemäß durchgeführt wird, ist folgendes zu beachten:
a) Die im Umherziehen beschäftigten jugendlichen Arbeitnehmer unter der Altersgrenze, bis zu der die ärztliche Eignungsprüfung pflichtmäßig vorgeschrieben ist, sollten gehalten sein, sich mit einem persönlichen Ausweis zu versehen, der vorzugsweise von einem der Arbeitsverwaltung unterstellten Dienst ausgestellt wird. Dieser Ausweis sollte auf Grund des Zeugnisses über die Arbeitseignung ausgestellt und alljährlich, gestützt auf die Ergebnisse der jährlichen Untersuchung, erneuert werden. Der Ausweis sollte mit einer laufenden Nummer und mit der Photographie oder der Unterschrift oder einem anderen Zeichen zur Feststellung der Persönlichkeit des Inhabers versehen sein und überdies Angaben enthalten über
i) Name, Alter und Adresse des Inhabers,
ii) Name und Adresse seiner Eltern mit der Erklärung, daß sie dem Kind oder dem Jugendlichen die Erlaubnis zu der im Ausweis bezeichneten Arbeit erteilt haben,
iii) die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung bei Arbeitseintritt und die späteren Untersuchungsergebnisse.
b) Die Inhaber der vorstehend genannten Ausweise sollten gehalten sein, ein Abzeichen mit einer der Ausweisnummer entsprechenden laufenden Nummer sichtbar zu tragen.
c) Zwischen den mit der Durchführung der Gesetzgebung betrauten Diensten der Arbeitsaufsicht und den örtlichen Behörden, insbesondere der Polizei, sollte eine volle Zusammenarbeit hergestellt werden, um die Papiere der im Umherziehen beschäftigten jugendlichen Arbeitnehmer regelmäßig zu überprüfen und sicherzustellen, daß sie den Vorschriften über die ärztliche Untersuchung zur Feststellung der Arbeitseignung entsprechen.