Soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung werden im Mittelpunkt meines Mandats stehen, sagt der neue ILO-Generaldirektor

Anlässlich seines Amtsantritts spricht Generaldirektor Gilbert F. Houngbo über seinen Hintergrund, seine Prioritäten und seine Vision für die ILO und die Welt der Arbeit.

Pressemitteilung | 3. Oktober 2022

Frage: Warum wollten Sie Generaldirektor der ILO werden?
Gilbert F. Houngbo: Ich denke, man muss sich nur meinen eigenen Hintergrund und meine Erfahrungen ansehen, dann wird man nicht überrascht sein. Um es ganz kurz zu sagen: Ich bin zwar unter Umständen aufgewachsen, die sicherlich nicht ideal sind, aber für mich persönlich ist das in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist die Tatsache, dass wir 50 Jahre, 60 Jahre später, immer noch vor denselben Herausforderungen stehen. Die Welt hat große Fortschritte gemacht, aber wir haben immer noch eine Vielzahl von Problemen, die nicht akzeptabel sind. Ich werde deswegen immer das tun, was möglich ist, um daran zu arbeiten.

F: Wie würden Sie die heutige Situation in der Arbeitswelt beschreiben?
Ich bin etwas besorgt über die Entwicklungen, die wir alle erlebt haben, insbesondere seit COVID-19. Auf der einen Seite sieht man positive Entwicklungen in der Arbeitswelt: die Digitalisierung der Wirtschaft und unserer Gesellschaft, die Fortschritte zeigt. Auf der anderen Seite stehen die Risiken für die Arbeitswelt, insbesondere die Informalisierung des ehemals formellen Sektors.

Seit 2021 haben wir einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Aus wirtschaftlicher Sicht geht es also wieder bergauf, aber wir wissen auch, dass die Arbeitsplätze und die Arbeitszeiten, die wir nach der Covid-19-Pandemie zurückgewinnen, eher im informellen Sektor angesiedelt sind, was ein Problem darstellt. Die Unsicherheit des Aufschwungs ist also besorgniserregend, und deshalb wird der Schutz der Arbeitsplätze für mich sehr wichtig sein. Die derzeitige Situation hat die Dinge nicht unbedingt einfacher gemacht, aber dafür wurde die ILO ja auch geschaffen.

F: Eines der Themen, über das viel gesprochen wird, ist die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen den Ländern. Und diese Ungleichheit scheint immer größer zu werden. Was können wir tun, um sie zu bekämpfen?
Die Ungleichheit ist einer der Hauptpunkte, auf die ich während meiner Kampagne zur Wahl gedrängt habe. Man muss die Gesamtheit der Herausforderungen der Ungleichheit in den Blick nehmen. Ein Teil dieser Herausforderungen fällt in den Zuständigkeitsbereich der ILO, aber ein Teil geht auch über die ILO hinaus. Durch den dreigliedrigen Dialog müssen wir uns für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzen. Ich denke dabei nicht nur an die Kluft zwischen armen und reichen Ländern, sondern auch an die Kluft innerhalb der Länder.

Auf der Ebene der Politikgestaltung, sei es auf nationaler, internationaler oder multilateraler Ebene, bei Handelsabkommen, ausländischen Direktinvestitionen oder ganzen Lieferketten, müssen wir sicherstellen, dass soziale Gerechtigkeit im Mittelpunkt steht und somit zur Bekämpfung der Ungleichheit beiträgt.

F: Ein weiterer Bereich des Wandels, der uns große Sorgen bereitet, ist der Klimawandel. In diesem Jahr gab es Dürreperioden, Überschwemmungen und Hitzewellen. Das verursacht eine Menge Probleme. Wie sehen Sie die Auswirkungen des Klimawandels auf die Arbeitswelt?
Der Klimawandel impliziert die Notwendigkeit eines gerechten Übergangs (Just Transition), angesichts der Energiekrise und des Ziels der Reduktion von CO2-Emissionen. Wir müssen sicherstellen, dass wir der Produktivität, der Entwicklung von Fähigkeiten und dem lebenslangen Lernen größere Bedeutung beimessen, damit wir den Arbeitnehmer*innen, die aus den traditionellen Industriebereichen kommen und sich den erneuerbaren Energien zuwenden, Chancen bieten.

Zweitens ist es wichtig, besser auf Krisensituationen vorbereitet zu sein. Was wir in Pakistan gesehen haben oder was wir an anderen Orten in Form von Überschwemmungen oder Dürre erleben, hat direkte Auswirkungen, nicht nur auf die Arbeitnehmer*innen, sondern auch auf die zunehmende Ungleichheit. Und oftmals sind es die Bürger*innen am unteren Ende der Pyramide, die den Preis dafür zahlen. Wir müssen also dafür sorgen, dass unsere Fähigkeit, auf die Krise eines Landes zu reagieren, größer ist.

F: Auf der jüngsten UN-Generalversammlung haben sowohl die ILO als auch UN-Generalsekretär Antonio Guterres den Global Accelerator on Jobs and Social Protection for Just Transitions gefördert. Wie könnte diese Initiative Ihrer Meinung nach weitergehen und welches Potenzial hat sie, um einige der Probleme zu lösen?
Zunächst einmal ist dies eine sehr, sehr gute und wichtige Initiative, sowohl für die Schaffung von Arbeitsplätzen als auch für den Sozialschutz. Sie ist ein Weg, um dem entgegenzutreten, was wir während COVID-19 erlebt haben, nämlich den Verlust von Arbeitsplätzen und dass andere Arbeitsplätze und Situationen prekär geworden sind. Vor allem Länder mit niedrigem Einkommen haben nur sehr wenig finanziellen Spielraum, um schnell und wirksam mit Sozialschutzsystemen zu reagieren.

Für mich ist daher ein universeller Sozialschutz, der sicherstellt, dass in jedem Land jede Bürgerin und jeder Bürger Zugang zu einem Mindestpaket an Schutz hat, von entscheidender Bedeutung. Das ist eine sehr große, gewaltige Aufgabe, mit der wir uns wirklich befassen müssen. Und das wird ein Kernelement meiner Zeit bei der ILO sein.

F: Viele der Probleme, mit denen wir derzeit konfrontiert sind, sind multilaterale Probleme. Klimawandel, Inflation, Nahrungsmittel- und Treibstoffkrise. Gleichzeitig ist das multilaterale System, das sich seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, so stark belastet wie nie zuvor. Was kann die ILO tun, um zum Wiederaufbau des multilateralen Systems beizutragen, um es zu stärken und das Vertrauen in es zu erhöhen?
Lassen Sie mich zunächst die Bedeutung des Multilateralismus hervorheben. Wir können dies nicht oft genug betonen. Die ILO muss einen Beitrag dazu leisten, indem sie zunächst die Führung in den vielen sozialen Fragen übernimmt, die im Mittelpunkt des ILO-Mandats stehen, angefangen bei der sozialen Ungerechtigkeit. Und zweitens muss die ILO selbst viel stärker in die globale multilaterale Architektur eingebunden werden, indem sie mit den Kolleg*innen in der UN, dem Sekretariat der UN selbst und den UN-Schwesterorganisationen zusammenarbeitet.

Ich denke, wir müssen unsere Zusammenarbeit mit den Finanzinstitutionen intensivieren, nicht nur mit der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), sondern auch mit den regionalen Entwicklungsbanken. Darüberhinaus möchte ich auf die Handelsabkommen und internationalen Arbeitsbeziehungen hinweisen, die Zusammenarbeit mit der Welthandelsorganisation (WTO), mit der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD). Für mich werden diese Kooperationen von entscheidender Bedeutung sein. Wir wissen, dass die gesamte Lieferkette eine Quelle der Einkommensgenerierung und der Schaffung von Arbeitsplätzen sein kann, insbesondere für Schwellenländer. Gleichzeitig besteht aber auch die Gefahr, dass Arbeitsplätze gefährdet werden und gefährdert sind. Die Zusammenarbeit in diesem Teil des Multilateralismus wird also sehr wichtig sein.

Die dritte Dimension ist der Klimawandel. Die Zusammenarbeit mit dem Grünen Klimafonds (GCF), mit der Globalen Umweltfazilität (GEF) und mit allen Anpassungsinstitutionen wird ebenfalls entscheidend sein. Nicht nur, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten, sondern auch, um dafür zu sorgen, dass die Zukunft der Arbeit nachhaltiger wird und mehr Arbeitsplätze schafft.

F: Sie haben gerade Ihre Amtszeit begonnen. Auf Ihrem Schreibtisch liegt bereits eine Menge Arbeit. Was werden die Prioritäten sein?
Ich werde auf mein Leitbild und alle Debatten zurückgreifen. Wichtig ist aber nicht nur der Auftrag, sondern auch der Dialog mit den Konstituenten. Das hilft, den Kern der Probleme zu erkennen, um die es geht.

Für mich geht es also um die Stärkung der sozialen Gerechtigkeit in großen Koalitionen und um den allgemeinen Sozialschutz. Wir müssen auch über die Lieferkette und den informellen Sektor sprechen. Außerdem hat uns COVID-19 gezeigt, dass sich einige Gruppen von Bürger*innen in einer sehr viel prekäreren Situation befinden; Frauen und Mädchen, insbesondere Frauen in ländlichen Gebieten, sind eine davon. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und selbständige Unternehmer*innen sind eine weitere Gruppe.

Wir sprechen über gerechte Übergänge, wo die ILO bereits gute Arbeit geleistet hat. Wir müssen auch die gesamte Dimension der Kinderarbeit und Zwangsarbeit weiter verfolgen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Entscheidung der Internationalen Arbeitskonferenz vom Juni 2022 Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit als Kernarbeitsnormen aufzunehmen. Wichtig ist hier die Umsetzung unserer Übereinkommen und die Modernisierung unserer Überwachungsmechanismen, um den Anforderungen der heutigen Welt Rechnung zu tragen.

Seien wir ehrlich, es gibt viele Herausforderungen, die möglicherweise ein neues Instrument erfordern. Ich weiß nicht, was für ein Instrument das sein könnte, aber es ist klar, dass wir uns mit diesen Themen befassen müssen: Die digitale Wirtschaft, die Lieferketten. All diese Bereiche werden für mich zu den Prioritäten der ILO gehören. Das sind große Aufgaben, aber wir werden sie angehen.