Atypische Beschäftigungsformen

Reformen zur Qualitätsverbesserung in atypischen Beschäftigungsformen sind dringend erforderlich

Eine aktuelle ILO Studie belegt: Atypische Beschäftigungsverhältnisse finden häufig nicht unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen statt.

Nachricht | 9. November 2016
© Núcleo Editorial

Genf (ILO News) –Zur Qualitätsverbesserung ist die Regulierung atypischer Beschäftigungsverhältnisse unerlässlich, so der Befund des neuen ILO-Berichts  „Non-standard employment around the world: Understanding challenges, shaping prospects“.

Der Bericht belegt, dass atypische Beschäftigungsverhältnisse (Non-standard forms of employment, NSFE) weltweit ansteigen. Dazu zählen unterschiedliche Formen der Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung, Scheinselbständigkeit, Zeitarbeit und Werkverträge und weitere verschleiernde Formen des Beschäftigungsverhältnisses.

„Atypische Beschäftigungsformen sind nicht neu, aber sie sind inzwischen ein weitverbreitetes Phänomen in der Arbeitswelt. Wir müssen sicherstellen, dass alle Beschäftigungsformen ein stabiles Einkommen, Schutz vor Arbeitsrisiken, soziale Sicherheit, Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen gewährleisten. Alle Beschäftigten sollten die Identität ihres Arbeitgebers kennen“, sagte die Stellvertretende ILO-Generaldirektorin Deborah Greenfield.

Atypische Formen der Arbeit können Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnen. Sie erhöhen zudem die Flexibilität für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie von Unternehmern. Gleichzeitig ist atypische Beschäftigung mit höheren Unsicherheiten für Beschäftigte verbunden. In Ländern, in denen atypische Beschäftigungsformen weitverbreitet sind, unterliegen sie dem Risiko, dass atypischer Beschäftigung und Arbeitslosigkeit sich laufend abwechseln. Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen haben Lohneinbußen bis zu 30 Prozent verglichen mit ihren Kollegen in vergleichbarer Position im Normalarbeitsverhältnissen.

Unklare vertragliche Vereinbarungen belasten das Beschäftigungsverhältnis. Sie hindern Arbeitnehmer an der Wahrnehmung ihrer grundlegenden Rechte und schränken den Zugang zu sozialen Leistungen und Weiterbildung ein oder verhindern diese sogar. Arbeitsunfälle sind unter Arbeitnehmern in atypischen Beschäftigungsverhältnissen ebenfalls häufiger.

Atypische Beschäftigung hat unterschätzte, aber nachhaltige Konsequenzen für Unternehmen: „Kurzfristige Kosten und Flexibilitätsgewinne durch atypische Beschäftigung können durch langfristige Produktivitätsverluste aufgehoben werden. Die Studie belegt, dass Unternehmen, die atypische Beschäftigungsformen häufiger nutzen, geringere Investitionen für die Weiterbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vornehmen, unabhängig davon, ob sie atypisch beschäftigt sind oder nicht. Ebenso investieren sie weniger in produktivitätsverbessernde Technologien und Innovationen“, resümiert Philippe Marcadent, Chef der ILO-Abteilung für Arbeitsbedingungen.

Kurzfristige Kosten- und Flexibilitätsgewinne durch atypische Beschäftigung können durch langfristige Produktivitätsverluste aufgehoben werden. ”

Philippe Marcadent, ILO Expert

Atypische Beschäftigungsformen verstärken die Segmentierung der Erwerbsbevölkerung, was zu höherer Volatilität der Beschäftigung führen kann. Dies hat Konsequenzen für die ökonomische Stabilität von Volkswirtschaften. Forschungen zeigen, dass Arbeitnehmer mit befristetem Arbeitsverhältnis und Arbeitnehmer auf Abruf größere Schwierigkeiten haben, Hauskredite zu bekommen, was zur sozialen Unsicherheit beiträgt und  zu Verzögerungen bei der Familiengründung führen kann.

Der Bericht benennt Schlüsseltrends atypischer Beschäftigungsformen: In Industrieländern unterscheiden sich Teilzeitarbeit und „stundenweise Arbeit“ oder „Arbeit auf Abruf“ einschließlich sogenannter „Null-Stunden-Verträge“ (die keine Garantie für eine Mindeststundenarbeitszeit bieten), während  in Entwicklungsländern Gelegenheitsarbeiten vorherrschen. Ende 2015 arbeiteten bereits 2,5 Prozent der Arbeitnehmer in Großbritannien auf Grundlage von „Null-Stunden-Verträgen“. Zehn Prozent der Erwerbstätigen in den Vereinigten Staaten arbeiten mit irreguläre Arbeitszeiten oder auf Abruf. Die untersten Einkommensgruppen sind besonders betroffen.

In Bangladesch, Indien, Mali und Simbabwe arbeiten fast Zweidrittel der Beschäftigten als Gelegenheitsarbeiter.

In Asien finden sich sehr unterschiedliche Formen atypischer Beschäftigung: Arbeit auf Anforderung, Zeitarbeit, Subunternehmertum oder ausgelagerte Arbeit. Ausgehend von einem zu vernachlässigenden Niveau in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, erhöhte sich im verarbeitenden Gewerbe in Indien in den Jahren 2011-12 der Anteil der Vertragsarbeit auf 34.7 Prozent.

Obwohl atypische Beschäftigungsformen weitverbreitet sind, zeigen sich in der Praxis gravierende Unterschiede zwischen Unternehmen sowie innnerhalb vergleichbarer Industriezweige und innerhalb der Länder. In Privatunternehmen aus mehr als 150 Ländern überwogen unbebefristete Arbeitsverhältnisse. Sieben  Prozent der untersuchten Firmen nutzten befristete Arbeitsverhältnisse intensiv (hier arbeiteten mehr als der Hälfte der Belegschaft befristet).

Aus der Analyse  ergeben sich vier Empfehlungen an die Politik:

1.      Regulatorische Lücken schließen -
einschließlich politischer Regelungen, die Gleichbehandlung unter den Arbeitnehmern gewährleisten, unabhängig von ihrem vertraglichen Beschäftigungsverhältnis.
Eine garantierte Mindeststundenzahl und begrenzte Variabilität der Arbeitszeiten; Gesetzgebung und Umsetzung zur Verhinderung von fehlerhaften Eingruppierungen
Verbot von missbräuchlichem Nutzen atypischer Beschäftigung und Sicherstellung von Rechten und Verantwortung bei Beschäftigungsverhältnissen, die mehrere Parteien einschließen
 
2.      Stärkung von Kollektivverhandlungen -
einschließlich des Aufbaus von Gewerkschaften, die Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen vertreten und Ausweitung von Kollektivvereinbarungen, damit alle Arbeitnehmer in einem Industriezweig oder einer Berufsgruppe Zugang zur Gewerkschaft haben.
Recht auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivvereinbarungen für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
 
3.      Stärkung des sozialen Schutzes -
Abschaffung oder Lockerung von Grenzwerten bei Mindestarbeitszeiten;
Sicherung von Verdienst und anderen Zuwendungen auch für befristete Beschäftigungsverhältnisse und flexible Gestaltung der Beiträge auch für Unterbrechungszeiten sowie Übertragbarkeit von Leistungen.
Diese Maßnahmen sollten durch eine umfassende Sozialpolitik ergänzt werden, so daß ein sozialer Basisschutz für alle erreicht wird.
 
4.       Beschäftigungs- und Sozialpolitik, die den Aufbau von Arbeitsplätzen stärkt, die notwendige Aus-und Weiterbildung gewährleistet sowie die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familienarbeit ermöglicht, sei es in der Betreuung der eigenen Kinder oder der alternden und alten Eltern.