ILO Köpfe: Maria Helena Andre, Direktorin des Bureau for Workers’ Activities (ACTRAV), über die Herausforderungen für Beschäftigte auf den globalen Arbeitsmärkten

Zu menschenwürdiger Arbeit gehört auch, dass sich Beschäftigte organisieren und für ihre Rechte eintreten. Im Interview beschreibt die Direktorin des Bureau for Workers‘ Activities bei der ILO, Maria Helena Andre, wie Arbeitnehmerorganisationen bei der ILO unterstützt werden und vor welchen Herausforderungen Beschäftigte und Gewerkschaften heute stehen.

Artikel | 3. Mai 2017

Die Schaffung von „Decent Work“ gehört zu den Grundpfeilern der ILO-Arbeit. Was sind aus Ihrer Erfahrung die größten Baustellen?

Trotz des beachtlichen Fortschritts, den wir in den letzten Jahrzehnten auf dem Weg zu einer menschengerechten Arbeitswelt gemacht haben, stehen wir vor alten und neuen Herausforderungen. Nie war unsere Arbeit so wichtig wie heute. Schauen wir zuerst auf die Beschäftigung, einer tragenden Säule menschenwürdiger Arbeit: Es gibt einfach immer noch nicht genug Jobs für alle. Vielmehr wächst die globale Arbeitslosigkeit und der Abbau der Zahl derjenigen, die trotz Arbeit arm sind, stagniert. 776 Millionen Arbeitende verdienen weniger als 3,10 US-Dollar am Tag.

Was die Rechte am Arbeitsplatz anbelangt, so sind Millionen Menschen in unzumutbaren Beschäftigungen gefangen. Dazu gehören 152 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren in Kinderarbeit und 25 Millionen Menschen (59% Frauen) in Zwangsarbeit, von denen fast 5 Millionen (99% Frauen) sexuelle Ausbeutung erfahren haben. Darüber hinaus gibt es Diskriminierung wegen Geschlecht, Herkunft, Behinderung, sexueller Identität oder anderer Gründe. Hinsichtlich der sozialen Absicherung geht es zwar in vielen Teilen der Welt voran, trotzdem sind nur 45% der Weltbevölkerung durch wenigstens eine soziale Sicherungsmaßnahme geschützt.

Zu guter Letzt der Sozialdialog: Wir müssen den bipartiten Dialog auf Unternehmens- und Sektorenebene sowie den tripartiten Dialog auf nationaler Ebene fördern, vor allem die Sozialpartner stärken. Starke Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen sind die Basis für einen wirksamen Sozialdialog. Das gilt insbesondere für die Gewerkschaften, die in die Lage versetzt werden müssen, sich effektiv in politische Prozesse einzubringen, wenn es um Herausforderungen wie technologische Innovationen, Globalisierung, Klimawandel und demografische Entwicklung geht.

Wie sieht die Rolle von ACTRAV innerhalb der ILO aus? Was genau leistet ACTRAV?

Das Bureau for Workers’ Activities (ACTRAV) ist das Bindeglied zwischen der ILO und den Arbeitnehmerorganisationen. Es soll sicherstellen, dass die Interessen der Arbeitnehmerseite im Rahmen der ILO-Aktivitäten berücksichtigt werden, sowohl in der Zentrale als auch vor Ort. Wir unterstehen direkt dem ILO-Generalsekretär und kooperieren mit allen technischen Abteilungen der ILO, um Dienstleistungen für die Konstituenten und im Besonderen die Arbeitnehmerorganisationen zu erbringen.

Während der Internationalen Arbeitskonferenz, den ILO-Verwaltungsratssitzungen und anderer tripartiter Zusammenkünfte arbeiten wir mit allen Teilnehmenden zusammen. Wir unterstützen, informieren und beraten die Arbeitnehmerdelegierten, um ihnen ihre Aufgaben bei der ILO zu erleichtern. In den Regionen stehen wir den Arbeitnehmerorganisationen zur Seite und helfen ihnen bei der Umsetzung der ILO-Vorgaben, bei tripartiten Meetings, aber auch bei technischen Fragen zur Umsetzung der Decent Work Agenda.

Darüber hinaus sind wir in der Bildung aktiv – über unser Arbeitnehmer-Bildungsprogramm im International Training Center der ILO. Jedes Jahr organisieren wir Fortbildungen in Turin und weltweit, mit denen wir Gewerkschaften beim Kapazitätsaufbau unterstützen, damit sie ihrer Rolle nachkommen können.

Welches sind die drei größten Herausforderungen für die Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten und für Gewerkschaften weltweit?

Die erste Herausforderung besteht darin, das Recht auf Vereinigungsfreiheit zu schützen, das anhaltend unter Druck steht. Viele Staaten erkennen dieses nicht an oder verweigern es bestimmten Gruppen, zum Beispiel Beschäftigten im informellen Sektor oder migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern. Hinzu kommt, dass in vielen Entwicklungsländern die Mehrheit der Arbeit noch immer im informellen und ländlichen Sektor stattfindet – eine schwierige Ausgangslage für Beschäftigte, um sich zu organisieren. Außerdem hat die Deregulierung der Arbeitsmärkte in Folge der globalen Finanzkrise, etwa durch die Austeritätsprogramme in vielen europäischen Ländern, Arbeitnehmerrechte und Kollektivverhandlungen geschwächt.

Die zweite Herausforderung sind die neuen Formen der Arbeit, die mit der Globalisierung und neuen Technologien einhergehen, zum Beispiel Robotik und intelligente Maschinen. Diese Veränderungen treffen auf ohnehin angespannte Arbeitsmärkte, die es nicht schaffen, mit der rasant wachsenden Bevölkerung in vielen Teilen der Erde Schritt zu halten. 40 Millionen Menschen drängen jedes Jahr zusätzlich auf die Arbeitsmärkte. Als Teil des Sozialdialogs müssen die Arbeitnehmerorganisationen deshalb aktiv in die Gestaltung der sozioökonomischen Bedingungen eingebunden werden.

Schließlich sehen wir Herausforderungen für die Gewerkschaften an sich. Der Organisationsgrad nimmt in den meisten Teilen der Welt ab. Gewerkschaften sind aber unerlässlich bei der Förderung von sozialer Gerechtigkeit und menschenwürdiger Arbeit für alle. Deshalb brauchen sie neue Strategien, um ihre Mitgliederbasis über ihre traditionellen Zielgruppen hinaus zu erweitern. Dazu müssen sie es schaffen, dass sich mehr Menschen organisieren, die nicht in klassischen Beschäftigungsformen arbeiten. Außerdem müssen die Gewerkschaften ihren Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der Wirtschaft leisten – der Sozial- und Umweltpolitik muss die gleiche Bedeutung beigemessen werden wie der Wirtschaftspolitik.