Hintergrund: Die Dreigliedrigkeit der ILO – wie werden Normen gesetzt und überwacht?

Die Beteiligung von Regierungen sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen an den Entscheidungsprozessen gehört zum Wesenskern der Internationalen Arbeitsorganisation. Wie funktioniert dieser dreigliedrige Ansatz konkret, wenn es darum geht, globale Arbeitsstandards zu vereinbaren und ihre Einhaltung zu kontrollieren?

Artikel | 7. April 2017
Ob Regelungen zur Entgeltgleichheit von Männern und Frauen, zum Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit oder für faire Arbeitsmigration: Die Festsetzung internationaler Arbeitsstandards durch die ILO ist das Ergebnis eines umfassenden und ausgewogenen Entscheidungsprozesses, an dem Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen sowie von Arbeigeberorganisationen und Gewerkschaften nach einem klaren Regelwerk beteiligt werden. Diese Dreigliedrigkeit der Normensetzung ist innerhalb des UN-Systems, dem die ILO als älteste Sonderorganisation angehört, einzigartig.

Das Verfahren zur ILO-Normensetzung

Damit sich die Mitgliedstaaten mit einem Problem befassen und dazu eine Norm entwickeln können, muss es zunächst vom ILO-Verwaltungsrat auf die Tagesordnung der einmal jährlich tagenden Internationalen Arbeitskonferenz der ILO gesetzt werden. Das ILO-Sekretariat bereitet das Thema hierfür in Form eines Berichts auf. Im Mittelpunkt steht eine vergleichende Analyse der entsprechenden Gesetzgebungen und Praktiken in den Mitgliedstaaten. Dieser Bericht wird den Regierungen sowie den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen zugesandt mit der Aufforderung, ihn zu kommentieren und Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Aus den Rückmeldungen erarbeitet das ILO-Sekretariat erste Schlussfolgerungen, die während der Internationalen Arbeitskonferenz zur Diskussion gestellt werden. Auf Grundlage der Diskussionsergebnisse entwickelt das ILO-Sekretariat einen weiteren Bericht mit einem konkreten Normenvorschlag, der erneut zur Diskussion gestellt wird. Auf der Internationalen Arbeitskonferenz wird dieser debattiert, bei Bedarf abgeändert und als ILO-Übereinkommen beschlossen. Dazu ist eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich. Vorteil des langwierigen Verfahrens ist eine breite Zustimmung unter den Konstituenten.

Dass der soziale Dialog ein Wesenskern der ILO ist, zeigt sich aber nicht nur in der „doppelten Konsultation“ der Sozialpartner, auch sind diese auf der Internationalen Arbeitskonferenz mit eigenem Stimmrecht vertreten. So entsendet jeder Mitgliedstaat neben zwei Delegierten aus der Regierung auch jeweils eine Delegierte oder einen Delegierten von Arbeitgeber- sowie von Arbeitnehmerseite – in Deutschland von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und vom Deutschen Gewerkschaftsbund. So wird sichergestellt, dass alle Interessen gleichermaßen Gehör finden, wenn über internationale Arbeitsnormen abgestimmt wird.

Die Einhaltung von Normen

Damit die von der Internationalen Arbeitskonferenz verabschiedeten Standards auch in der Praxis angewendet werden, haben sich die ILO-Mitglieder auf ein ausdifferenziertes Überwachungssystem verständigt: Alle 187 Mitgliedstaaten müssen in regelmäßigen Abständen über die rechtliche und praktische Umsetzung der ILO-Normen Bericht erstatten. Für Kernarbeitsnormen besteht dabei eine Berichtspflicht alle zwei Jahre, für alle weiteren Übereinkommen und Empfehlungen alle fünf Jahre.

Auch hier spielt die Einbeziehung der Sozialpartner eine wichtige Rolle. So müssen die Mitgliedstaaten ihre Berichte an die nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen weiterleiten und ihnen die Möglichkeit zur Stellungnahme geben. Die kommentierten Länderberichte werden dann von zwei unabhängigen Gremien unter die Lupe genommen: Zunächst überprüft ein Expertenkomitee, bestehend aus 20 unabhängigen Juristen, anhand des Berichts, wie weit die rechtliche Umsetzung der ILO-Norm in einem Land vorangeschritten ist. Hierfür kann der Ausschuss gezielt Nachfragen an die Regierung sowie an Arbeitgeber- oder Arbeitnehmervertretungen richten. Seine Bewertung veröffentlicht er in einem Abschlussbericht, der der Internationalen Arbeitskonferenz vorgelegt wird. Dort werden ausgewählte Berichte von einem tripartiten Konferenz-Komitee zur Anwendung der Normen diskutiert, das aus 150 Mitgliedern besteht. Die Regierungen der betroffenen Mitgliedstaaten werden zum Komitee eingeladen, um zur aktuellen Situation Stellung zu nehmen. Diese Sitzungen sind nicht öffentlich, da es nicht darum geht, Staaten mit Entwicklungsbedarf an den Pranger zu stellen. Am Ende legt die Internationale Arbeitskonferenz ebenfalls einen Abschlussbericht vor, der vom Plenum beschlossen wird und Lösungsvorschläge oder Unterstützungsangebote für die jeweiligen Staaten enthält.

Dank dieses transparenten Verfahrens und der öffentlichen Abschlussberichte kann sich jeder Interessierte zu jeder Zeit über die tatsächliche Umsetzung von Standards vor Ort informieren. Auf diese Weise fördert die ILO nicht nur den Sozialdialog, sondern unterstützt die Länder auch aktiv bei der Umsetzung der Normen, noch bevor ein Verstoß gemeldet werden muss.

Beschwerderecht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern

Unabhängig von diesem Prozess haben laut ILO-Verfassung Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen jederzeit das Recht, gravierende Verletzungen von ILO-Standards in Mitgliedstaaten zu melden (neben dem Beschwerderecht von Mitgliedstaaten). Nimmt der ILO-Verwaltungsrat eine Beschwerde an, kann er einen dreiköpfigen, paritätisch zusammengesetzten Ausschuss einberufen, der die Beschwerde in einem vertraulichen Verfahren prüft und nicht-öffentliche Empfehlungen formuliert. Dabei wird dem betroffenen Mitgliedstaat die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben.

Der Verwaltungsrat kann die Beschwerde aber auch an den Ausschuss für Vereinigungsfreiheit (CFA) weiterleiten, der sich vor allem mit Fällen beschäftigt, in denen das Recht auf Vereinigungsfreiheit verletzt wurde. Der Ausschuss besteht aus einem unabhängigen Vorsitzenden sowie jeweils einer Vertretung von Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite und arbeitet eng mit dem betroffenen Mitgliedstaat zusammen. Wird ein Verstoß festgestellt, wird dieser verbunden mit Handlungsempfehlungen vom Ausschuss veröffentlicht. Teilweise werden auch tripartite Dialoge vor Ort direkt angestoßen. Die ILO-Mitgliedstaaten sind gehalten, über die Umsetzung dieser Empfehlungen Bericht zu erstatten.

Fazit: Gemeinsame Lösungen für komplexe Herausforderungen

Sowohl die Regeln für die Normensetzung als auch für die Normenüberwachung zeigen: Für die komplexen Herausforderungen der Arbeitswelt braucht es ausgereifte Antworten, die von Regierungen, Unternehmen und Beschäftigten gemeinsam gefunden und getragen werden. Der dreigliedrige Ansatz der ILO stellt sicher, dass sich die Länder auf realistische Zielsetzungen von Programmen, Forschungsschwerpunkten und Normen einigen. In Verbindung mit einer strengen Überwachung durch Interessensvertretungen und Expertinnen und Experten trägt die ILO zudem dazu bei, dass die Umsetzung auch gelingt. Dabei setzt sie nicht auf Naming und Shaming, sondern auf einen Dialogprozess auf höchster Ebene, der durch die Netzwerke von Arbeitgebern wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mitgetragen wird.