ILO Köpfe: Experteninterview mit Frank Hagemann: „Menschenwürdige Arbeitsplätze schaffen – in den Heimat- und den Gastländern!“

Der Nahe und Mittlere Osten ist eine Hauptzielregion für Migration weltweit. Die ILO arbeitet dort schon lange in diesem Themenfeld. Mit Frank Hagemann, stellvertretender Direktor des Regionalbüros Arabische Staaten, konnten wir einen erfahrenen Experten für unser Interview gewinnen. Er öffnet facettenreich das Feld der Arbeitsmigration, beschreibt darin liegende Chancen und Probleme und sowie die Aufgaben und Programme der ILO im Nahen Osten. Dabei wird klar: Arbeitsmigration kann nutzbringend sein, sowohl für die Ziel- als auch für die Ursprungsländer. Auf eine menschenwürdige Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse kommt es an. Und: Wenn gerechte Arbeitsplätze in den Heimatländern geschaffen werden, ist Migration eine Option, keine Notwendigkeit.

Artikel | 1. März 2017

Was ist Ihre Aufgabe bei der ILO und was haben Sie vorher gemacht?

Als stellvertretender Regionaldirektor bin ich verantwortlich für die Zusammenarbeit der ILO mit den arabischen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens und ansässig in Beirut. Seit 2012 arbeite ich von hier aus, bin aber auch regelmäßig in den Ländern unserer Region. Insgesamt bin ich seit fast 25 Jahren bei der ILO. Angefangen habe ich Anfang der Neunziger in Indien, danach habe ich einige Jahre in Thailand gearbeitet und schließlich lange Zeit in der Zentrale in Genf, hauptsächlich zu Kinderarbeitsfragen.

Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen und besonderen Merkmale für Arbeitsmigration, gerade im Nahen und Mittleren Osten?

Global gesehen ist der Nahe und Mittlere Osten mit mehr als 32 Millionen Migranten, vor allem Arbeitsmigranten, eine der Hauptzielregionen für Migration weltweit. Der Zuzug in diese zum Teil reichen Länder hat Migrantinnen und Migranten mit unzähligen Arbeitsplätzen versorgt und ihre Familien mit Geld und damit Lebensgrundlagen. So ist Arbeitsmigration nutzbringend sowohl für Ziel- als auch Ursprungsländer. Einerseits bietet sie Chancen für Migrantinnen und Migranten, neue Kenntnisse und Kompetenzen zu erwerben und der Armut im Heimatland zu entkommen. Andererseits hilft Migration, die Knappheit an Arbeitskräften im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere in den Golfstaaten, zu überwinden.

Die Länder in der Region erlauben zudem keine permanente Migration, oder zumindest schränken sie diese drastisch ein. Der Großteil der ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat zeitlich sehr begrenzte Verträge, was sich schon alleine darin artikuliert, dass die meisten Arabischen Staaten von „temporären Vertragsarbeitern“ oder „temporären ausländischen Arbeitern“ sprechen anstatt von Arbeitsmigranten.

Worin können Probleme der Arbeitsmigration liegen?

Leider bringt die Migration von gering qualifizierten Arbeiterinnen und Arbeitern eine Reihe von Problemen mit sich, da viele der Arbeitsplätze keine menschenwürdige Arbeit (Decent Work) bieten und Gefahren durch ausbeuterische Arbeitspraktiken nach sich ziehen, im Extremfall sogar Zwangsarbeit oder Menschenhandel. Im Besonderen finden wir folgende Trends besorgniserregend:

Anwerbungsprozesse sind zumeist teuer und undurchsichtig. Die gering qualifizierten Arbeiter zahlen oft exzessive Arbeitsvermittlungsgebühren, für die sie sich verschulden und die ihre Unterstützung für die Familie reduzieren. Die vertraglichen Bedingungen, die als Teil des Sponsoringsystems geboten werden, haben ebenfalls eine Kehrseite. Die Arbeiter sind gesetzlich an ihre Arbeitgeber gebunden, was es ihnen schwer macht, ohne die Zustimmung des Arbeitgebers die Anstellung zu kündigen oder den Job zu wechseln – selbst in Fällen von Missbrauch.

Der Rechtsweg ist sehr limitiert für Arbeitsmigranten. Sie haben Schwierigkeiten, Beschwerden einzureichen oder Entschädigungen zu erhalten. Arbeitsmigranten haben generell begrenzte Möglichkeiten, Missbräuche anzuzeigen oder gemeinsam bessere Arbeitskonditionen auszuhandeln. Mangelhafte Arbeitsinspektion und Regelung der Arbeits- und Lebensbedingungen staatlicherseits führen dazu, dass oft schlechte, ja manchmal sogar gefährliche Arbeitsbedingungen vorgefunden werden.

Haushaltsangestellte sind oft besonders gefährdet, da sie in privaten Haushalten arbeiten und damit in den meisten Ländern des Nahen und Mittleren Ostens nicht unter die Arbeitsgesetze fallen.

Worauf zielen die Programme der ILO?

Die Programme der ILO zielen darauf, die Rechte von „zeitweiligen“ Migranten zu verbessern und zu stärken, insbesondere für gering Qualifizierte, im Handwerk beschäftigte Arbeitnehmer, sowie Beschäftigte in Sektoren, die durch oft besonders fragwürdige Arbeitsbedingungen gekennzeichnet sind, wie z.B. die Bau- und Landwirtschaft.

Wie sieht das konkret aus? Können Sie ein besonders erfolgreiches Programm der ILO im Bereich Migration skizzieren?

Hier denke ich an das Regionalprojekt „Faire Migration im Nahen Osten“ (FAIRWAY), das im September 2016 gestartet wurde, um faire Migration zu fördern, Zwangsarbeit und Menschenhandel in der Region zu unterbinden sowie Regierungen und Sozialpartner bei der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele 8.7, 8.8 und 10.7 zu unterstützen. Das 30-monatige Projekt ist eine Plattform für beweisgesteuerte Politikberatung in der Region. Es unterstützt bei der Inkraftsetzung von Gesetzen und Programmen durch die Verbesserung institutioneller Mechanismen. Durch die strukturellen Veränderungen wird ein leistungsfähiges Umfeld geschaffen, in dem menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Frauen und Männer entstehen und diskriminierende Einstellungen gegenüber Migranten abgebaut werden. Das Projekt konzentriert sich auf die lokale Ebene und bietet länderspezifische Hilfestellung in Bahrain, Jordanien, Kuwait, dem Libanon und den Arabischen Emiraten an. Der Schwerpunkt liegt dabei vor allem auf geringqualifizierten Migrantinnen und Migranten – Beschäftigten im Baugewerbe und der Hausarbeit.

Die ILO arbeitet in der Regel mit einer Vielzahl von Akteuren – lokal bis international; wer ist bei FAIRWAY mit Ihnen an der Umsetzung beteiligt?

Seit September 2016 hat das Projekt eine Reihe strategische Partnerschaften geschaffen, um in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, Bürgerrechtsorganisationen und weiteren Partnern im Libanon und in Jordanien Probleme bei Hausangestellten anzugehen. Berichte aus und über das Projekt FAIRWAY haben einen guten Einfluss auf politische Veränderungen in der Region bewirkt. Ein Report zu geringqualifizierten Arbeitern im arabischen Raum konnte kürzlich öffentlich auf der ILO-Regionalkonferenz in Bali vorgestellt und somit von Repräsentanten aus 37 Ländern diskutiert werden. Hunderte teilnehmende Organisationen weltweit waren online live zugeschaltet. Diese Öffentlichkeit ist außerordentlich hilfreich.

In den kommenden zwei Jahren ist es Ziel des Projektes, über 200 Schlüsselorganisationen aus Regierung und der Arbeitnehmerschaft durch Fortbildungsmaßnahmen darin zu schulen, Arbeitsbedingungen gezielt zu überwachen, Zugang zu Beschwerdemechanismen zu erlangen und die Rechte von Migranten zu stärken.

Gibt es Erfolgskriterien aus den ILO Programmen, die sich auch auf Deutschland in Bezug auf den Umgang mit Arbeitsmigration übertragen lassen?

Ich denke, hier lassen sich einige Punkte nennen, die mehr oder weniger übertragbar sind. Unsere Arbeit hat gezeigt – und das ist sicher eine universelle Erkenntnis – dass man schon in den Heimatländern der Migranten für menschenwürdige Arbeitsplätze sorgen muss. Denn dann ist Arbeitsmigration eine Option und keine Notwendigkeit. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung unterstreicht die gemeinsame Verantwortung gerechte Arbeit und Sozialschutz zu fördern. Als wichtiger Partner hat auch Deutschland eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung dieser Entwicklungsziele. Des weiteren gilt es natürlich grundsätzlich, Menschenrechte und Arbeitsrechte im Gastland, auch für Migranten, durchzusetzen. Dazu gehören das faire Anwerben von Arbeitnehmern und die Gleichberechtigung von Einheimischen und Migranten bei der Einstellung. Dies ist die beste Voraussetzung, damit Ausbeutung am Arbeitsplatz verhindert und Chancengleichheit geboten wird.

Arbeitsmigration ist für Zielländer vorteilhaft, da sie hilft die Arbeitsnachfrage zu decken. Gleichzeitig unterstützt sie die Entwicklung der Heimatländer durch Geldrücksendungen (Remittances). Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate liegen nach den Vereinigten Staaten an zweiter und dritter Stelle in Geldrücksendungen. Die Geldrücksendungen von sechs Golfstaaten stellen insgesamt 17.7 Prozent der weltweiten Remittances dar.

Staaten, die Migrantinnen und Migranten aufnehmen, können und sollten die Rechte von Migranten stärken und ihre Durchsetzung garantieren. Grundsätzlich sollten alle Migranten von der jeweiligen Arbeitsgesetzgebung des Gastlandes abgedeckt werden. Ihnen muss die Möglichkeit gegeben sein, den Arbeitgeber in der Zeit ihres Aufenthaltes zu wechseln, gerade im Falle von Verstößen gegen Arbeitsrecht oder bei Misshandlungen. Die Entwicklung von ausreichend finanzierten und geschulten Arbeitsinspektoren ist ein weiteres Merkmal des Arbeitsschutzes, das insbesondere für Migrantinnen und Migranten gilt.

Bei der Anwerbung sollte darauf geachtet werden, dass die Arbeitgeber und nicht die Arbeitnehmer die Kosten übernehmen. Und wenn am Zielort Probleme hinsichtlich der Einhaltung des Arbeitsrechtes entstehen, sollten Migranten Zugang zu fairen, effizienten und kostenlosen Konfliktlösungsmechanismen haben, ohne sofort das Land verlassen zu müssen. Gerade Gewerkschaften können bei der Inanspruchnahme von Beschwerdemechanismen helfen. Migranten werden unter anderem dadurch gestärkt, ihre Probleme eigenständig zu lösen, wenn es ihnen möglich ist, Gewerkschaften beizutreten oder sogar eigene Gewerkschaften zu gründen oder zumindest ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Am Ende ist es von großer Bedeutung ein positives Bild der Arbeitsmigranten zu vermitteln, durch gute Information und Berichterstattung, auf der Grundlage von Partnerschaften mit Medien, der Zivilgesellschaft, den Gewerkschaften und Arbeitgebern. Nur so kann einer Diskriminierung und Ausbeutung vorgebeugt werden.

Die Türkei gilt als Schlüsselnation für die Einwanderung nach Europa. Dort warten Millionen (Trans-)Migranten auf die Weiterreise. Gibt es besondere ILO-Programme oder eine Zusammenarbeit mit der Türkei in dieser Hinsicht?

Mein Regionalbüro für die Arabischen Staaten arbeitet mit unserem Europäischen Regionalbüro und unserer Außenstelle in Ankara bezüglich der syrischen Flüchtlingsproblematik eng zusammen. In der Türkei konzentriert sich die ILO unter anderem darauf, die Regierung bei der Berufsbildung für syrische Flüchtlinge zu unterstützen.

Was ist Ihr größter Erfolg?

Noch vor zwei Jahren wäre es unmöglich gewesen, syrische Flüchtlinge in den libanesischen und jordanischen Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies hat sich nun grundlegend geändert. Auf unserer Arbeit fußend werden z.B. in Jordanien behördliche Arbeitserlaubnisse an Zehntausende von Flüchtlingen erteilt und ihnen damit ein Dasein in Würde und Anstand ermöglicht. Gleichzeitig wird einer Weiterwanderung nach Europa vorgebeugt. Auch helfen die von uns angeschobenen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dabei, die Wirtschaft und Infrastruktur der Länder zu stärken.