ILO-Köpfe: Hilfe im Kampf gegen Zwangs- und Kinderarbeit

Beate Andrees, Leiterin des Sonderprogramms zur Bekämpfung der Zwangs- und Kinderarbeit, über die Rolle der ILO im Kampf gegen ausbeuterische Strukturen am Arbeitsplatz.

Artikel | 8. November 2016

Sie leiten die Abteilung Grundrechte am Arbeitsplatz sowie das „Internationale Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit und Zwangsarbeit“. Was ist Ihre Aufgabe bei der ILO?

Theorie und Praxis verbinden sich in unserer Arbeit: Es geht ganz konkret um die Abschaffung der Zwangs- und Kinderarbeit weltweit, die Förderung der Versammlungs- und Tariffreiheit und den Abbau von Diskriminierung am Arbeitsplatz. Das wichtige ist, dass Länder, die die ILO-Normen nicht ratifiziert haben, trotzdem in der Verpflichtung sind, diese Rechte zu wahren und zu fördern sowie diese Normen umzusetzen, weil es Menschenrechte sind. Das ist ein Unikum im internationalen Recht. Unser Auftrag und unsere Herausforderung ist es, diese Grundrechte in unseren Mitgliedsstaaten zur Anwendung zu bringen. Wir stehen den Regierungen dafür beratend zur Seite, stellen viele Hilfsmittel wie z. B. unseren Helpdesk für Unternehmen bereit und leisten, gemeinsam mit den Sozialpartnern, auch technische Hilfe vor Ort.


Kinderarbeit ist in Deutschland abgeschafft. Warum geht uns das Thema trotzdem an?

Europa steht in der Theorie schon gut da, denn es handelt sich hierbei tatsächlich um die einzige Region, in der alle Staaten alle Kernarbeitsnormen ratifiziert haben. Aber auch in Deutschland gibt es immer wieder mal Probleme, wenn man zum Beispiel in den Armutsbericht und auf die zunehmende soziale Ungleichheit schaut. Wenn Kinderarbeit hierzulande auftritt, dann in vulnerablen Gruppen wie z. B. bei Flüchtlingen, die schlecht integriert sind. Der Schlüssel sind allerdings die globalen Lieferketten: Kinderarbeit steckt in vielen Produkten, mit denen wir täglich zu tun haben. Für uns ist die Kinderarbeit, die in den einzelnen Produktionsschritten fernab unserer Landesgrenzen liegt, erst mal unsichtbar, wir sind aber indirekt damit in Kontakt und über den Welthandel ganz klar damit verbunden. Als Konsument kann man aber nur ein Teil der Lösung und des Problems sein. Die Hauptaufgaben sehen wir ganz klar bei den Regierungen; die sind in der Verantwortung. Konsumenten können in diesem Zusammenhang ihre kritische Stimme als Bürger einbringen und sagen, wir wollen, dass unsere Regierung sich um dieses Thema kümmert.


Welche Rolle spielt das Thema derzeit für die ILO und in der Welt?

Alle vier Kernarbeitsnormen, nicht nur zur Kinder- und Zwangsarbeit, sondern auch die zur Diskriminierung und Versammlungsfreiheit, haben in den vergangenen Jahren einen höheren Stellenwert bekommen. Während in den 90er Jahren das Thema noch sehr kontrovers diskutiert wurde, sehen wir einen wachsenden Konsens, dass diese Rechte überall geschützt werden müssen, unabhängig davon, ob es sich bei den Betroffenen um Migranten oder eine indigene Volksgruppe handelt. Sie gelten für alle. In der Agenda 2030, die im September 2015 von allen Mitgliedsstaaten der UN verabschiedet wurde, sind diese Grundrechte verankert – zum ersten Mal. Wir haben, inhaltlich angelehnt an den Punkt 8.7. dieser Agenda, eine neue Allianz, die Allianz 8.7, auf den Weg gebracht, um die Bemühungen der Beseitigung von Zwangsarbeit, moderner Sklaverei und Menschenhandel zu konzentrieren und das Verbot und die Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit sicherzustellen. Der politische Stellenwert ist also gewachsen; das heißt natürlich noch nicht, dass Menschen überall Zugang zu diesen Rechten haben. Im Gegenteil: In manchen Regionen sind gerade da, wo Kriege und Konflikte sind oder demokratische Grundrechte generell abgebaut werden, natürlich auch diese Rechte in Gefahr.

Die ILO hilft dabei, Grundrechte zur Anwendung zu bringen – das klingt abstrakt. Wie geht die ILO dabei vor?

Der erste Ansprechpartner für uns sind ganz klar die Regierungen: Die Rechte müssen von ihnen umgesetzt werden. In einem erstem Schritt prüfen wir daher, ob die Theorie stimmt, also ob die nationalen Gesetze im Einklang mit den ILO-Normen stehen, und treten dann mit den Regierungen in einen Dialog. Wir arbeiten außerdem mit den Sozialpartnern zusammen, wie beispielsweise mit Gewerkschaften. Sie können helfen, den Opferschutz zu stärken und konkret vor Ort Modelle entwickeln, um Menschen zu unterstützen, deren Grundrechte in Gefahr sind. Im Libanon haben wir gemeinsam mit einer örtlichen Gewerkschaft daran gearbeitet, Hausangestellte zu organisieren. Viele von ihnen sind von Zwangsarbeit betroffen und oft noch minderjährig. In Ghana am Lake Volta wiederum hat die ILO gemeinsam mit Gewerkschaften Kinderarbeit ins Visier genommen. Dort waren Kinder unter schlimmsten Bedingungen gezwungen, eigenhändig Fischernetze im See zu entwirren. Sie verletzten sich oder starben auch dabei. Wir wollten nicht einfach nur die Kinder aus der Situation herausholen, denn das ist oft nicht die einzige Lösung. Stattdessen haben wir mit der Gemeinde zusammengearbeitet und Ansätze entwickelt, mit denen die wirtschaftlichen Grundlagen so ausgerichtet werden, dass die Menschen nicht mehr auf Kinderarbeit angewiesen sind und professionelle Taucher engagiert werden können.

Die Lösungen sind unterschiedlich: Bei Zwangsarbeit geht es um strafrechtliche Verfolgung und Identifizierung, um Opferschutz und Prävention. Bei Kinderarbeit geht es vor allem um Entwicklungsfragen. Die Mehrzahl der Kinder, die heute noch arbeiten, arbeitet mit ihren Familien in der Landwirtschaft. Man löst das Problem nicht dadurch, dass man die Kinder ihren Eltern wegnimmt. Lösungen liegen in der Schulbildung wie der ländlichen Entwicklung, sodass die Eltern das Einkommen ihrer Kinder nicht mehr brauchen. Damit die Kinder nicht mehr der Ersatz für sozialen Schutz sind, muss in soziale Sicherheitsnetze investiert werden.

Neben Regierungen und Gewerkschaften arbeiten Sie auch mit der Wirtschaft zusammen. Wie sieht das aus?

Das zeigt sich z. B. anhand der Schokoladenindustrie gut: Wir haben ein Unternehmensnetzwerk aufgebaut, die International Cocoa Initiative, in der Unternehmen Mitglied sind, die mit uns zusammen an Lösungen arbeiten wollen. Am Anfang stand eine Initiative eines US-amerikanischen Senatoren und der ILO, die alle Akteure an einen Tisch gebracht und zunächst einmal den gemeinsamen Willen zur Bekämpfung der Kinderarbeit festgehalten hat. In einem zweiten Schritt wurden in Studien die Formen und Umstände der Kinderarbeit in den größten Exportländern, der Elfenbeinküste und Ghana analysiert. Wir haben heute eine bessere Vorstellung davon, was passiert, z. B. dass die Kinder nicht unter sklavenähnlichen Bedingungen, sondern bei ihren Familien in Kleinbetrieben mitarbeiten. Die Kommerzialisierung der Kakaoplantagen vollzieht sich allerdings gerade so rasch, dass die Arbeit nicht mehr kindgerecht ist. Es ist eine Sache, ob die Kinder zuhause auf ihrem Hof helfen, Kakaobohnen zu trocknen und nebenbei zur Schule gehen, oder ob sie auf Plantagen rund um die Uhr arbeiten und mit gefährlichem Werkzeug hantieren. Die Behörden vor Ort haben nicht sofort positiv reagiert, aber mit der Zeit gab es doch den Willen, sich einzusetzen. Und nun arbeiten wir auch mit der Regierung zusammen. Der Präsident der Elfenbeinküste hat das als einen klaren Schwerpunkt seiner Amtszeit erklärt und er möchte das Problem lösen. Wir arbeiten jetzt eng mit den Behörden zusammen und mit der Industrie, die über diese internationale Kakao-Initiative Geld dafür zur Verfügung stellt.

Ein anderer Weg sind unsere Public Private Partnerships, bei denen wir gemeinsam mit einem Unternehmen einen Lösungsansatz entwickeln. Unternehmen kommen häufig zu uns, weil sie durch Medienberichte oder eigene interne Analysen zu dem Schluss gekommen sind, dass ein Problem oder Risiko besteht. Wir bieten z. B. im nächsten Monat einen Trainingskurs für Adidas in Hongkong an. Der Beratungsbedarf ist groß; wir bekommen mehr Anfragen als wir abdecken können.