World Security Report 2014/15

Mehr als 70 Prozent der Weltbevölkerung haben keinen angemessenen sozialen Schutz

Auch wenn weitgehend anerkannt wird, dass soziale Sicherung notwendig ist, bleibt dies grundlegende Menschenrecht für die große Mehrheit der Weltbevölkerung unverwirklicht.

Nachricht | 3. Juni 2014
Genf – Für mehr als 70 Prozent der Weltbevölkerung gibt es keinen angemessenen sozialen Schutz. Dies geht aus dem neuen „ILO Weltbericht zur sozialen Sicherung 2014/15 - Schlüssel zu wirtschaftlicher Erholung, inklusiver Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit“ hervor. Demnach genießen nur 27 Prozent der globalen Bevölkerung Zugang zu umfassenden sozialen Sicherungssystemen.


„Die Weltgemeinschaft einigte sich im Jahr 1948 darauf, dass Gesundheitsversorgung für Kinder und soziale Sicherheit für Arbeitnehmer, die arbeitslos oder arbeitsunfähig werden und für kranke, behinderte und ältere Menschen universelle Menschenrechte sind“, sagte Sandra Polaski, Vertreterin des ILO-Generaldirektors zur Vorstellung des Berichts in Genf. „Im Jahr 2014 ist diese Zusicherung des universellen sozialen Schutzes für die große Mehrheit der Weltbevölkerung noch immer nicht eingelöst“.

Soziale Sicherheit spielt eine wichtige Rolle für die Verringerung von Armut und Ungleichheit und ermöglicht inklusives Wachstum. Sie verbessert die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit benachteiligter Menschen, steigert die Produktivität, stützt die Inlandsnachfrage und erleichtert den Strukturwandel in Volkswirtschaften.


Die Ausweitung von sozialer Sicherung: wesentlich für Krisenerholung und inklusive Entwicklung


Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat eindrücklich die Bedeutung von sozialer Sicherheit als Menschenrecht und als wirtschaftliche und soziale Notwendigkeit gezeigt. In der ersten Krisenphase (2008–09) spielte die soziale Sicherheit eine wichtige Rolle als Teil einer expansiven Politik. Mindestens 48 Länder mit hohem und mittlerem Einkommen kündigten Konjunkturpakete mit einem Gesamtvolumen von 2,4 Billiarden US-Dollar an, wovon ungefähr ein Viertel in antizyklische soziale Sicherungsmaßnahmen investiert wurde. In der zweiten Krisenphase, seit 2010 gingen Regierungen trotz der dringend notwendigen weiteren staatlichen Unterstützung schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen zur Haushaltskonsolidierung und zu verfrühten Ausgabenkürzungen über.

„Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung sind Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung nicht auf Europa beschränkt“, so Isabel Ortiz, Direktorin der Abteilung für Soziale Sicherheit der ILO, „viele Entwicklungsländer haben Anpassungsmaßnahmen beschlossen“. Laut Prognosen des IWF werden 122 Länder, davon 82 Entwicklungsländer ihre Staatsausgaben senken. Das heißt Abschaffung oder Verringerung von Nahrungsmittel- und Brennstoffsubventionen; Lohnkürzungen oder -deckelungen auch für Gesundheits- und Sozialfürsorgepersonal, Rationalisierung und engere Zielgruppenauswahl von Sozialleistungen sowie Reformen von Renten- und Gesundheitsversorgungssystemen.

Soziale Sicherheit ist wesentlich für die wirtschaftliche Erholung, inklusive Entwicklung und soziale Gerechtigkeit und muss Teil der Entwicklungsagenda für die Zeit nach 2015 sein“, so Sandra Polaski
 


Während viele Länder mit hohem Einkommen ihre sozialen Sicherungssysteme beschneiden, weiten viele Entwicklungsländer sie aus. Länder mit hohem Einkommen haben eine Reihe von Sozialleistungen verringert und den Zugang zu staatlichen Leistungen beschränkt. Zusammen mit anhaltender Arbeitslosigkeit, niedrigeren Löhnen und höheren Steuern haben diese Maßnahmen zu mehr Armut und sozialer Ausgrenzung geführt, wovon in der Europäischen Union jetzt 123 Millionen Menschen betroffen sind, 24 Prozent der Bevölkerung, viele von ihnen Kinder, Frauen, Ältere und Personen mit Behinderungen.

Auf der anderen Seite haben viele Länder mit mittlerem Einkommen ihre sozialen Sicherungssysteme deutlich ausgeweitet und stärken auf diese Weise ihre nationalen nachfragegestützten Wachstumsstrategien: China beispielsweise hat einen allgemeinen Deckungsgrad der Altersrenten fast erreicht und Löhne erhöht und Brasilien hat die Ausweitung des Deckungsgrads der sozialen Sicherung und des Mindestlohns seit 2009 beschleunigt.

Manche Länder mit niedrigem Einkommen wie Mosambik haben die soziale Sicherheit vor allem durch befristete Programme mit sehr niedrigen Leistungsniveaus ausgeweitet. In vielen dieser Länder wird jedoch die Einführung sozialer Basisschutzniveaus als Teil umfassender sozialer Sicherungssysteme diskutiert.

Soziale Sicherheit für Kinder und Familien


Im Durchschnitt wenden Regierungen 0,4 Prozent des BIP für Kindergeld und Familienleistungen auf, wobei die Spanne von 2,2 Prozent in Westeuropa bis zu 0,2 Prozent in Afrika sowie in Asien und dem Pazifik reicht.

Soziale Sicherungsmaßnahmen sind ein wesentliches Element aller Bemühungen, die Rechte von Kindern zu verwirklichen, ihr Wohlbefinden sicherzustellen, den Teufelskreis von Armut und Anfälligkeit zu durchbrechen und allen Kindern zu helfen, ihr Potenzial voll auszuschöpfen.

Trotz einer starken Ausweitung einiger Programme berücksichtigen bestehende soziale Sicherungsmaßnahmen nicht ausreichend den Bedarf an Einkommenssicherheit von Kindern und Familien. Dies gilt insbesondere in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen und einem großen Anteil von Kindern in der Gesamtbevölkerung.

Jeden Tag sterben etwa 18.000 Kinder, hauptsächlich an vermeidbaren Ursachen: Viele dieser Todesfälle könnten durch angemessene soziale Sicherheit verhindert werden.

Weltweit werden 2,3 Prozent des BIP für soziale Sicherheit aufgewendet, um die Einkommenssicherheit von Frauen und Männern im Erwerbsalter zu gewährleisten; regional variieren die Werte beträchtlich und reichen von 0,5Prozent in Afrika bis zu 5,9 Prozent in Westeuropa. De facto erhalten jedoch nur 12 Prozent der Arbeitslosen weltweit Arbeitslosengeld. Der effektive Deckungsgrad reicht von 64 Prozent der Arbeitslosen in Westeuropa bis knapp über 7 Prozent in der Region Asien und Pazifik, 5 Prozent in Lateinamerika und der Karibik sowie weniger als 3 Prozent im Nahen Osten und in Afrika.

Das in Menschenrechtsinstrumenten und internationalen Arbeitsnormen verankerte Recht auf Einkommenssicherheit im Alter schließt das Recht auf eine angemessene Rente ein. Trotzdem erhält fast die Hälfte (48 Prozent) aller Personen über dem Rentenalter keine Rente. Bei vielen, die eine Rente beziehen, ist die Rentenhöhe nicht ausreichend. In mindestens 14 Ländern Europas werden zukünftige Rentner niedrigere Renten beziehen.

Weltweit verfügen 39 Prozent der Bevölkerung nicht über eine Absicherung im Krankheitsfall. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung von Ländern mit niedrigem Einkommen bleibt ohne jegliches Recht auf Absicherung in Bezug auf die Gesundheitsversorgung. Schätzungen der ILO zufolge fehlen zudem weltweit 10,3 Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen, die erforderlich wären, um sicherzustellen, dass alle, die Gesundheitsleistungen benötigen, sie in hoher Qualität erhalten. Trotzdem haben es einige Länder, wie Thailand und Südafrika in wenigen Jahren geschafft, ein umfassendes Gesundheitswesen aufzubauen, dies zeigt was möglich wäre.

Die Empfehlung betreffend den sozialen Basisschutz, 2012 (Nr.202) (Social Protection Floors Recommendation) der Internationalen Arbeitsorganisation spiegelt den Konsens über die Ausweitung sozialer Sicherheit wider, der zwischen Regierungen sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden aus 185 Ländern auf allen Stufen der Entwicklung erzielt wurde. Des Weiteren wird die Einführung sozialer Basisschutzniveaus von der G20 und den Vereinten Nationen unterstützt.

Es ist eine Frage des politischen Willens, dies in die Realität umzusetzen. Moderne Gesellschaften können soziale Sicherheit ermöglichen“, so die Schlussfolgerung Sandra Polaskis.