ILO-Direktorin Dr. Niederfranke spricht im Interview mit „akzente“ über die Zukunft der Arbeit

Die Digitalisierung der Arbeitswelt ist Chance und Risiko zugleich: flexible Arbeitsweisen und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf der einen Seite, der Anspruch auf soziale Absicherung und Kontinuität auf der anderen. Für den Blog „Nachhaltigkeitsnotizen“ von „akzente“ sprach Dr. Niederfranke, ILO-Direktorin Deutschland, am 14. Mai über die künftigen Entwicklungen der Arbeitswelt.

Artikel | 28. Juni 2018
In der Digitalisierung der Arbeitswelt stecken Chancen und Risiken gleichermaßen: Flexible Arbeitsweisen und die Möglichkeit, Privatleben und Beruf besser zu vereinen, stehen dem Anspruch an sozialer Absicherung und Kontinuität gegenüber. Wir sprachen über die Zukunft der Arbeitswelt mit Dr. Annette Niederfranke, Direktorin der Repräsentanz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Berlin.

Viele Menschen sorgen sich darum, dass sie künftig durch Roboter ersetzt werden. Doch Technologien haben unser Arbeitsleben schon immer verändert und Arbeit nicht wegrationalisiert. Sind die Sorgen unbegründet?


Dr. Annette Niederfranke: Technologischer Wandel war auch in der Vergangenheit – etwa in Bergwerken und Fabriken – mit der Sorge verbunden, Arbeitsplätze zu verlieren. Die Arbeit ist jedoch nie ausgegangen. So ist es auch heute angesichts der Herausforderungen durch Digitalisierung, Automatisierung und künstlicher Intelligenz. Laut OECD unterliegen allein in Deutschland zwölf Prozent der Arbeitsplätze dem Risiko, automatisiert zu werden, und 45 Prozent der Arbeitsplätze stehen vor großen Veränderungen. Gleich- zeitig entstehen neue Arbeitsfelder in den Sektoren Pflege, Gesundheit, Erziehung, Bildung, Technologie, Infrastruktur und erneuerbarer Energie. Hier wird ein enormes Wachstumspotenzial gesehen. Welt- weit werden bis zu 300 Millionen neue Arbeitsplätze erwartet, infolgedessen neue Märkte, von denen auch Deutschland profitiert, nicht nur volkswirtschaftlich, sondern auch durch zusätzliche Arbeit. Das A und O ist allerdings, dass wir die Beschäftigten von heute und morgen auf diese Veränderungen nachhaltig vorbereiten.

Digitalisierung flexibilisiert den Arbeitsplatz, denn die Arbeitsleistung kann zeitlich und räumlich unabhängiger erbracht werden. Sehen Sie darin eine Chance oder eine Gefahr?


Die Entwicklung hin zu mehr Flexibilisierung muss gestaltet werden, um Chancen zu nutzen und Gefahren verbunden mit mangelnder sozialer Absicherung, fehlendem Arbeitsschutz, Entgrenzung der Arbeit, Aushöhlung des Arbeitsrechts, weniger Fortbildungsmöglichkeiten und schlechter Durchsetzung der Kollektivrechte abzuwenden. Weltweit sehen wir eine Diversifizierung innerhalb der Arbeitswelt: Das traditionelle Modell des angestellten und in Vollzeit tätigen Arbeitnehmers weicht zunehmend Beschäftigungsformen wie Teilzeit/Rufbereitschaft, Leiharbeit, mobiler Arbeit, Solo-Selbständigkeit und als neue Form die Arbeit in der Gig-Ökonomie. Dies bietet Chancen z. B. für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, für das selbstbestimmte und ortsunabhängige Arbeiten. Wichtig sind hierbei jedoch die richtigen Leitplanken für ,gute Arbeit‘.

Welche Rolle kommt Gewerkschaften zukünftig zu?

Die Tarifbindung lässt nach, die Mitgliedszahlen in Gewerkschaften sinken, die Individualisierung der Arbeitswelt führt zu einer Verlagerung der Risiken auf den Einzelnen und zur Organisation von Arbeit über Länder und Kontinente hinweg. Das stellt Gewerkschaften vor große Herausforderungen. Neben Regierungen und der Wirtschaft müssen sie die Mitbestimmungsrechte gestalten und durchsetzen, sich für gute Arbeit und auskömmliche Löhne und für soziale Sicherung einsetzen. Bewährte Instrumente, die sich aus dem Streik- und Vereinigungsrecht ableiten, müssen angesichts der Globalisierung von Arbeit ggf. neu durchdacht wer- den. Wie kann man Mitbestimmungsrechte über Grenzen hinweg oder in einer virtuellen Arbeitswelt organisieren? Gewerkschaften stellen sich diesen Fragen und suchen nach Antworten. Eins ist sicher: Die Zukunft der Arbeit braucht Sozialpartnerschaft.

Die ersten ILO-Kernarbeitsnormen stammen aus den 1950er Jahren. Brauchen wir angesichts der neuen Entwicklungen zukünftig, digitale Arbeitsnormen‘?

Die ILO-Kernarbeitsnormen – Vereinigungsfreiheit, Recht zu Kollektivverhandlungen, Abschaffung von Zwangsarbeit, Beseitigung von Kinderarbeit, Verbot der Diskriminierung – sind grundlegende Menschenrechte, die auch im digitalen Zeitalter ihre Gültigkeit haben. Wahr ist aber auch, dass wir für die neuen Arbeits- formen und die Arbeitswelt von morgen angemessene Leitplanken brauchen. Genau daran arbeitet die Internationale Arbeitsorganisation, die 2019 ihr 100-jähriges Bestehen feiert. Wir nehmen das als Verpflichtung, nach vorne zu schauen, alle unsere Instrumente dar- aufhin zu überprüfen, ob sie der „Zukunft der Arbeit“ standhalten, und zu entscheiden, welche neuen Normen und Instrumente wir brauchen. Dazu bündeln wir alle Kräfte in der Jahrhundertinitiative „Zukunft der Arbeit“.

Welche Schwerpunkte müsste die Bundesregierung in ihrer Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik setzen, damit wir auf die Arbeitswelt von morgen vorbereitet
sind?

Der Koalitionsvertrag setzt mit Digitalisierung, guter Arbeit sowie der Offensive für Bildung und Weiterbildung national die richtigen Schwerpunkte, an denen wir auch international arbeiten. Besonders positiv bewerte ich, dass ein ausdrückliches Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft besteht mit dem Grundsatz, dass Digitalisierung aktiv unter Einbeziehung der Sozialpartner gestaltet werden muss. Die Bundesregierung steht darüber hinaus zur internationalen Zusammenarbeit. Und die ausdrückliche Stärkung der Internationalen Arbeitsorganisation, wie im Koalitionsvertrag festgehalten, freut mich besonders.

Quelle: http://blog.akzente.de/de/nachhaltigkeitsnotizen/corporate-responsibility/arbeit-40-leitplanken-fuer-gute-arbeit/