ILO Köpfe: Expertinneninterview mit Martine Humblet

Spätestens seit dem Dienstleister wie Uber auch in Europa aktiv werden, hat das Thema Zukunft der Arbeit einen festen Platz auf der medialen Agenda. Doch wie kann eine internationale Organisation wie die ILO diese Herausforderung angehen, wenn bereits Lösungen auf nationaler Ebene schwierig sind? Und was versteht man überhaupt unter Schlagworten wie „Clickworker“ oder „neuen atypischen Beschäftigungsformen“? Antworten auf diese Fragen gibt Martine Humblet, Mitarbeiterin im Referat „Inclusive Labour Markets, Labour Relations and Working Conditions Branch (INWORK)“ der Abteilung „Conditions of Work and Equality Department (WORKQUALITY)“ der ILO in Genf.

Artikel | 16. Dezember 2016

Was steckt hinter den neuen Arbeitsformen der ‘gig economy’ und Arbeit auf Abruf via Apps?

Die sog. ‚gig economy‘ umschreibt im Wesentlichen zwei Arbeitsformen: Crowdworking und sogenannte Arbeit auf Abruf via Apps. Crowdwork wird über Online-Plattformen organisiert. Charakteristisch für die ‚gig economy‘ ist eine Vielzahl von Kunden und Dienstleistern (die Crowd), gearbeitet wird global. Oftmals bedeutet Crowdworking das Erledigen von einfachen Aufgaben, sog. Microtasks, wie beispielsweise Bilder für Online-Shops zu markieren oder Audio-Dateien zu transkribieren. Allerdings werden manche Crowdworker auch mit komplexeren Aufgaben wie Produktdesign beauftragt. Arbeit auf Abruf via Apps hingegen beschreibt die örtlich begrenzte Ausführung einer bestimmten Dienstleistung wie beispielsweise Essen zu liefern oder Kunden von A nach B mit dem PKW zu bringen. In beiden Fällen bringt das Internet Anbieter von Dienstleistungen und ihre Kunden zusammen. Der Kunde bezahlt dabei allerdings nur die Zeit, die rein für die Erbringung der jeweiligen Leistung anfällt.

Sind diese neuen Arbeitsformen auch eine Herausforderung für das bisherige Arbeitsrecht?

Mit der ‚gig economy‘ sind Vor- und Nachteile verbunden. So kann man mit einem solchen Job, sei es als Uber-Fahrer oder als Dienstleister auf der Amazon-Plattform Mechanical Turk (Angebot von Amazon in Nordamerika und Großbritannien, das Dienstleister und Auftraggeber für IT-Aufträge zusammenbringt, Anm. d. R.) durch flexible Arbeitszeiten das eigene Einkommen aufstocken. Auch für Menschen mit Beeinträchtigungen kann die Arbeit auf einer Online-Plattform ein Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt sein. Doch auch wenn das Thema in Medien und Politik aktuell eine breite Aufmerksamkeit genießt, sollten diese neuen Arbeitsformen nicht getrennt vom Rest des Arbeitsmarkts betrachtet werden. Im Gegenteil, in einer neuen Veröffentlichung betont die ILO die vielen Ähnlichkeiten dieser neuer Arbeitsformen mit atypisch Beschäftigten in der ‚realen Wirtschaft‘, den Gelegenheitsjobbern, Zeitarbeitern, Scheinselbstständigen und Arbeitern mit 0-Stunden Verträgen.

Denn neben bestimmten Vorteilen haben Beschäftigte in der ‚gig economy‘ ein erhöhtes Risiko, mit den Kehrseiten menschenwürdiger Arbeit konfrontiert zu werden. Dazu gehören Einkommensunsicherheit und insbesondere die Scheinselbstständigkeit. Arbeiter, die von ihren Online-Plattformen streng beaufsichtigt werden, de facto aber als Selbständige gelten, verlieren so in der Praxis nicht selten ihre Rechte auf Kollektivverhandlungen, Mindestlohn, Arbeitszeitregulierung und soziale Sicherung. In einigen Ländern laufen daher derzeit gerichtliche Verfahren.

Ein weiteres Merkmal der ‚gig economy‘ ist der harte Wettbewerb zwischen den Arbeitern um die wenigen guten ‚gigs‘. Das spiegelt sich in den Preisen wider. Bei Crowdworkern kommt die Konkurrenz aus aller Welt.

Ist die ‚gig economy‘ nicht vorwiegend ein Phänomen der Westlichen Welt?

Die Arbeit auf Abruf via Apps ist ein globales Phänomen. Das Taxiunternehmen Uber ist beispielsweise in mehr als 70 Ländern aktiv. Anders verhält es sich bei Crowdworking. Das Oxford Internet Institute hat die Geschäftsabwicklung einer großen Online-Plattform analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der Kunden bzw. Auftraggeber mit Ausnahme von Indien und Malaysia aus den wohlhabenden Industriestaaten stammen. Die Mehrheit der Arbeiter bzw. Dienstleister hingegen kommt aus Entwicklungsländern wie Indien und den Philippinen; allerdings sind auch einige westliche Länder wie die USA auf dem Markt vertreten.

Crowdworking steht erst seit kurzem auf der politischen Tagesordnung in Deutschland und Großbritannien. Welchen Ansatz verfolgt die ILO?

Die ILO beschäftigt sich mit der ‚gig economy‘ im Kontext von atypischer Beschäftigung. Vor kurzem ist ein ILO-Bericht dazu erschienen. Darin wurden verschiedenen Trends analysiert, insbesondere in Bezug auf die Auswirkungen auf Angestellte, Unternehmen, Arbeitsmarkt und Gesellschaft. Der Bericht zu atypischer Beschäftigung enthält auch Lösungsvorschläge, die durch Ländervergleiche und bezogen auf ILO-Arbeitsstandards entwickelt wurden. Die ILO erkennt an, dass es verschiedene – inklusive atypische – Beschäftigungsformen gibt, aber bemüht sich zu gewährleisten, dass jede dieser Beschäftigungsformen menschenwürdig gestaltet ist.