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Experteninterview mit Ockert Dupper: „Bei der Förderung des weltweiten Arbeitsschutzes gibt es kein ‘one size fits all‘-Modell.“

Der Vision Zero Fonds (VZF) fördert individuell und zugeschnitten auf die Bedürfnisse der verschiedenen Länder menschenwürdige Arbeitsbedingungen – beispielsweise durch die Etablierung einer Unfallversicherung, durch die Stärkung des gesetzlichen Arbeitsschutzes oder aber die Unterstützung von Inspektionen vor Ort. Sozialpartner sind immer involviert. Was dabei zu beachten ist und welchen Weg die ILO mit dem VZF geht, erklärt VZF-Fondsmanager Ockert Dupper im Interview.

Artikel | 6. April 2017

Wie lange und in welchen Positionen haben Sie für die ILO gearbeitet und was ist Ihre derzeitige Aufgabe?

Ich arbeite seit 2014 für die ILO; zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Referat für Arbeitsrecht und Arbeitsreform, danach in der Abteilung Compliance und Arbeitsinspektionen für Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit. Im Juni 2016 wurde ich Programm Manager des VZF. Es ist meine Aufgabe, sowohl globale als auch länderspezifische Aktivitäten des Fonds zu koordinieren. Bevor ich zur ILO gekommen bin, war ich Vizepräsident einer Multi-Stakeholder-Initiative mit Sitz in Washington D.C. und verantwortlich für Programme der Fair Labour Association. Zuvor war ich 16 Jahre lang Professor für Arbeits- und Sozialrecht in Südafrika.

Kurz zusammengefasst, was ist die Idee des VZF?

Der Name bringt es schon gut auf den Punkt: Der Vision Zero Fonds zielt auf die totale Vermeidung von arbeitsbedingten Todes- und Krankheitsfällen ab. Dies soll durch eine verbesserte Gesetzeslage im Bereich Arbeitsschutz und Gesundheitsstandards erreicht werden, aber auch durch eine Stärkung von Institutionen wie z. B. Arbeitsinspekteuren und Unfallversicherungen in Ländern und Sektoren, die Teil von globalen Lieferketten sind.

Der soziale und volkswirtschaftliche Verlust, der durch gefährliche Arbeitsbedingungen verursacht wird, ist enorm. Berechnungen der ILO haben ergeben, dass 2,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jedes Jahr an den Folgen von arbeitsbedingten Unfällen und Krankheiten sterben. Darüber hinaus leiden etwa 160 Millionen Arbeitnehmerinnern und Arbeitnehmer unter arbeitsbedingten Krankheiten und 313 Millionen Menschen verletzten sich am Arbeitsplatz. Und immer noch gibt es 34 Entwicklungsländer, die über gar keine Arbeitsunfallversicherungen verfügen. Ganze 60 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weltweit sind nicht adäquat versichert. Der Schaden für Unternehmen und Volkswirtschaften ist enorm. Laut Schätzungen gehen durch Krankheiten und Unfälle am Arbeitsplatz 4 Prozent des Welt-Bruttoinlandsproduktes verloren.

Der VZF arbeitet gegen diesen Trend – sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Im öffentlichen Bereich kombiniert der Fonds drei Aufgabenfelder:
  • die Stärkung von gesetzlichen Rahmenbedingungen im Bereich Arbeitsschutz, Arbeitssicherheit und Unfallversicherungen;
  • die Vergrößerung der Kapazitäten von Institutionen wie Arbeitsinspekteuren um Unfälle, Krankheiten und Verletzungen zu vermeiden;
  • die Unterstützung im Aufbau von Arbeitsunfallversicherungen.
Im privaten Sektor werden durch den VZF gezielte Interventionen durchgeführt – sowohl flächendeckend für ganze Branchen als auch gezielt in Unternehmen. Die Maßnahmen sind auf nachhaltige Veränderungen angelegt, die ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld und gute Arbeitspraktiken ermöglichen. Außerdem soll eine Verbindung geschaffen werden zwischen Unternehmen und den Versicherungssystemen, gerade im Rahmen der Arbeitsunfallversicherung.

Die ILO ist dabei für die Verwaltung und die Projektumsetzung verantwortlich. Dadurch erhalten die Projekte des Fonds die gebündelte Expertise von ILO-Experten, die global führend an der Verbesserung von Arbeitsschutz, der Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz sowie des Aufbaus von sozialen Sicherungssystemen ist.

Welche Rolle haben die Sozialpartner in der Überwachung von Arbeitsstandards im Bereich Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit in globalen Lieferketten? Und inwiefern sind Regierungen eingebunden, um die Nachhaltigkeit der Maßnahmen sicherzustellen?

Die Verantwortung von Regierungen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist komplementär und stärkt sich gegenseitig.

Da arbeitsbedingte Gefahren am Arbeitsplatz lauern, ist es die Verantwortung des Arbeitgebers, ein sicheres und gesundes Umfeld für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen. Er muss vorbeugen und die Angestellten vor arbeitsbedingten Risiken schützen. Daher brauchen Unternehmen auch genügend Kenntnisse über die Gefahren am Arbeitsplatz. Zum Beispiel sollte dieses Wissen deutlicher Teil der Unternehmenskultur sein und Entscheidungen, wie Arbeit organisiert wird, beeinflussen. Das gilt ebenso für den Einsatz von Technologie. Aber auch die Ausbildung ist wichtig: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen dahin gehend sensibilisiert werden, Gefahren weitestgehend minimieren zu können. Letztendlich ist für den VZF vor allem wichtig, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber Schritte unternehmen, um Angestellte im Falle von Krankheit oder Unfall am Arbeitsplatz angemessen zu versichern.

Gerade multinationale Unternehmen stehen in der Verantwortung, durch ihr Handeln nicht zu Menschenrechtsverletzungen beizutragen – und Verletzungen zu adressieren, wenn diese stattfinden. Zum Beispiel kann durch den Einkauf dieser Konzerne, der in kürzester Zeit Modifikationen der Modelle oder erhöhte Stückzahlen fordert, großer Druck auf die Hersteller in den jeweiligen Ländern ausgeübt werden. Der Druck wird auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitergegeben, beispielsweise in Form von Überstunden. Genau dort entstehen Gefahren für die Gesundheit der Mitarbeiter. Oft gestehen sich die Hersteller auch nicht ein, dass sie keine Kapazitäten mehr haben, um den Käufer zu bedienen, da sie diesen nicht als Kunden verlieren wollen. Für die Mehrarbeit werden Zulieferer beauftragt – meist kleinere Unternehmen. Diese haben keine Kenntnisse vom Käufer, dafür aber schlechte Gesundheits- und Sicherheitsstandards. Das Multinationale Unternehmen kennt derweil die genauen Lieferketten nicht.

Auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stehen in der Verantwortung sich selbst und andere zu schützen, die durch ihr Handeln betroffen sein könnten. Dies impliziert ein Recht auf Wissen – Arbeiter müssen die Risiken am Arbeitsplatz verstehen. Daher sollten sie genauestens informiert werden und Trainings erhalten. Um Fortschritte in der Arbeitssicherheit zu gewährleisten, sollten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Gewerkschaften mit den Arbeitgebern kooperieren und gemeinsam Präventionsprogramme entwickeln. Diese Arbeit könnte beispielsweise durch bipartite Komitees organisiert werden.

Am Ende sind es die Regierungen, die für die Ausarbeitung und Umsetzung von Policies zum Gesundheitsschutz und Arbeitsschutz verantwortlich sind. Programme schlagen sich in Gesetzen nieder und diese gilt es auch durchzusetzen. Gesetze werden vor allem dann akzeptiert, wenn sie durch Beschäftigte und Arbeitgeber maßgeblich beeinflusst wurden, nämlich in der Kooperation mit Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern. In vielen Ländern haben sich dafür tripartite Nationalkomitees gebildet, die aus Ministerien sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern bestehen, aber auch andere Institutionen umfassen können, die sich mit Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz befassen.

Der Sozialdialog ist in Entwicklungsländern oft weniger institutionalisiert als in den Industriestaaten. Was macht die ILO, um diese Lücke zu schließen?

Es gibt niemals ein ‘one size fits all‘-Modell für den sozialen Dialog. Wir sehen eher, dass es eine Vielfalt an institutionellen Ansätzen, gesetzlichen Rahmen und Traditionen des Sozialdialogs gibt. Daher ist ein Schlüssel für effektiven Sozialdialog, ihn an die Gegebenheiten im Land individuell anzupassen – gerade damit die Nachhaltigkeit von Prozessen und die Eigenverantwortlichkeit der Akteure erhalten bleiben. Nichtsdestrotz sind die Grundpfeiler des Dialogs immer das Prinzip der Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen.

Die ILO ist darum bemüht, den Sozialdialog zu etablieren oder auszubauen. Dies beinhaltet die Stärkung der gesetzlichen und institutionellen Rahmenbedingungen aber auch die Hilfe zur Selbsthilfe, sodass alle Akteure einen effektiven Sozialdialog und die Dreigliedrigkeit auf nationaler Ebene umsetzen können. In dem Zusammenhang forscht die ILO immer wieder im Bereich der Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen, zu den Trends im Bereich des Sozialdialogs und formuliert Programme und Unterrichtsmodelle, um dreigliedrige Organisationen und ihre Stakeholder zu unterstützen.

Könnten Sie darauf eingehen, welche Rolle die Sozialpartner in der Implementierung des Pilotprojektes in Myanmar haben?

Der Fonds entscheidet sich nur dann für das Investment in einem Land, wenn es eine beidseitige öffentlich-private Verpflichtung von Unternehmen, Regierungen und den Sozialpartnern sowie anderen relevanten Stakeholdern gibt. Daher braucht es schon vor der Implementierung des VZF erhöhte Maßnahmen zur Erweiterung sozialpartnerschaftlicher Projekte, damit das eigentliche Engagement des Fonds beginnen kann. Alle Akteure müssen sich auf ein Ziel einigen. Sobald die Zusage der Partner vorhanden ist, stellt diese eine solide Basis für alle Agierenden, in Zukunft zusammenzuarbeiten. In Myanmar hat das nationale, dreigliedrige Dialogforum letzten September die Projekte des VZF erhalten und bestätigt. Danach begannen die Konsultationen der Sozialpartner. Das Sekretariat des VZF finalisiert zur Zeit die Dokumente, die es für den Projektbeginn benötigt. Danach wird die Implementierung vor Ort mit lokalen ILO-Mitarbeitern und den Konstituenten vorangetrieben. Sowohl die ILO-Experten in Genf als auch in Myanmar selbst liefern dafür die technische Expertise.

Am Ende soll in jedem Land, in dem der VZF tätig ist, ein nationales VZF-Komitee eingerichtet werden, das ein kontinuierliches Engagement und die Selbständigkeit der nationalen Akteure sicherstellt. Die Rolle des nationalen VZF-Komitees beinhaltet:
  • das Ziel „Vision Zero“ durch politische Entscheidungsträger und Führungskräfte in Unternehmen bestätigen zu lassen,
  • die Überwachung und Protokollierung von Vorschritten und Hindernissen,
  • die Unterstützung der nationalen Stakeholder.
Die Mitgliedschaft des nationalen VZF-Komitees ist offen für Regierungsmitglieder, Sozialpartner und Repräsentanten führender Unternehmen, die durch ihre globalen Lieferketten in dem Land produzieren, für Vertreter der Geldgeber des VZF sowie für die ILO-Länderbüros und den jeweiligen Projektmanager. Sie bilden gemeinsam das VZF-Sekretariat.

Welche Länder außer Myanmar sollen zukünftig durch den VZF unterstützt werden und wie werden dort die Sozialpartner integriert?

Ein zweites Pilotprojekt des VZF ist in Äthiopien geplant. Auch hier gilt: Das beidseitige Einverständnis der Sozialpartner ist Voraussetzung für die Zusammenarbeit mit dem VZF. Daher ist das VZF-Sekretariat gerade damit betraut, vorbereitende Beratungsmaßnahmen in dem Land anzubieten, bevor das Projekt durch den Lenkungsausschuss bestätigt wird. Bereits seit einiger Zeit führen wir Gespräche mit den äthiopischen Sozialpartnern und diese werden wir auch in Zukunft fortsetzen. Wir erhoffen uns eine formelle Zusage der dreigliedrigen Konstituenten für ein VZF-Projekt im zweiten Quartal dieses Jahres und den Startschuss des Pilotprogrammes im dritten Quartal 2017.

Die Implementierung des VZF hat gerade erst begonnen. Was haben Sie gelernt und können Sie schon ein paar der Erkenntnisse verraten, die Sie in dem Prozess gesammelt haben? Was ist Ihre Erwartung an die zukünftigen Aktivitäten des Fonds?

Was wir aus anderen Projekten gelernt haben? Einzelne Projekte von privaten und öffentlichen Akteuren haben nur einen limitierten Nutzen. Daher ist es notwendig, private und öffentliche Ansätze zu kombinieren und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Stakeholdern zu fördern. Sektor-basierte Herangehensweisen in den produzierenden Ländern müssen mit globalen Prozessen vernetzt werden. Der VZF profitiert dahingehend von einer prominenten Platzierung in der G7-Initiative zu globalen Lieferketten und damit zu anderen multilateralen Prozessen.

In der Zukunft müssen Reichweite und Mehrwert des Projektes gesteigert werden. Außerdem sollten nicht-traditionelle Stakeholder ebenfalls involviert werden, um den informellen Sektor abzudecken. Gerade zu Arbeitnehmern im informellen Sektor haben die ILO-Konstituenten (Regierungen, Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen) nur limitierten Zugang. Man kann die die Arbeit des VZF außerdem mit anderen Interessensvertretungen aus weiteren Sektoren vereinen, wie den kleineren und mittelständischen Unternehmen.

Zudem sollten Projekte zu Arbeitsschutz und Gesundheit am Arbeitsplatz mehr in die Öffentlichkeit getragen werden. Gerade so kann man auch den informellen Sektor erreichen, welcher ein wichtiges Segment der Schwellenländer abdeckt.

Am Ende ist der große Vorteil des VZF, dass er als globaler Fonds die Flexibilität besitzt, gezielt finanzielle Fördermittel einzusetzen. Diese können genutzt werden, um Pionierarbeit zu leisten oder als Co-Finanzierung laufende Projekte zu unterstützen, damit diese vergrößert werden können. Fördermittel aus dem Fonds können als Startkapital fungieren, um neue Initiativen zu gründen und dort einzuschreiten, wo es Lücken in der Finanzierung gibt.