Hintergrund: Moderne Sklaverei und die weltweite Ausbeutung von Arbeitskraft

Auch im 21. Jahrhundert sind Menschenhandel und Zwangsarbeit für Millionen von Kindern, Frauen und Männern Alltag. Der Kampf gegen die moderne Sklaverei und Kinderarbeit gehört deshalb zu den wichtigsten Aufgaben der internationalen Gemeinschaft. Die ILO leistet ihren Beitrag dazu, damit Menschenhandel und Ausbeutung von Arbeitskraft bis 2030 der Vergangenheit angehören.

Artikel | 8. November 2016
Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Unsere Welt ist voller Produkte und Dienstleistungen, die unter Zwang hergestellt beziehungsweise angeboten werden. Menschenhandel, Zwangs- und Kinderarbeit existieren über Grenzen hinweg und in fast allen Branchen, allen voran in der Hauswirtschaft, in der Landwirtschaft, im Bausektor, im herstellenden Gewerbe und in der Prostitution.

Zwangsarbeit meint dabei jede Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person gegen ihren freien Willen und unter Androhung einer Strafe verlangt wird. Die Zwangsmittel können offensichtlich sein wie bei der Anwendung physischer Gewalt, aber auch subtiler, beispielsweise durch Täuschungen, Drohungen oder die Manipulation von Löhnen. Arbeit unter Zwang kann darüber hinaus verschiedene Formen annehmen. Bei der in Teilen der Welt noch immer verbreiteten Schuldknechtschaft etwa handelt es sich um eine der Sklaverei ähnliche Form: Aufgrund einer Verschuldung, zum Beispiel durch einen Vorschuss oder ein Darlehen, müssen die Betroffenen ihre Schulden unter den Bedingungen der Knechtschaft „abarbeiten“, manchmal auf unbestimmte Zeit.

Kein ausschließliches Problem von Entwicklungsländern

Dabei haben wir es bei Zwangsarbeit grundsätzlich mit einem globalen Phänomen zu tun: Knapp 21 Millionen Menschen sind nach Erhebungen der ILO davon betroffen. Zwar befinden sich die meisten von ihnen im asiatisch-pazifischen Raum (11,7 Millionen Menschen), in Afrika (3,7 Millionen) und Lateinamerika (1,8 Millionen). Doch auch in Nordamerika, der Europäischen Union, Japan und Australien sind insgesamt 1,5 Millionen Menschen unter Zwang beschäftigt. Für Europa selbst wird die Zahl auf 800.000 geschätzt. In Osteuropa und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kommen weitere 1,6 Millionen hinzu. Frauen sind im Vergleich zu Männern überproportional betroffen. Darüber hinaus gehören Arbeitsmigranten und indigene Völker zu den am meisten gefährdeten Gruppen.

Hinzu kommt die anhaltend verbreitete Kinderarbeit, etwa in der Baumwollproduktion, beim Anbau von Kaffeebohnen oder dem Abbau von Coltan für Mobiltelefone. Laut ILO-Report „Marking progress against child labour – Global estimates and trends 2000-2012“ sind weltweit noch immer 168 Millionen Kinder prekär beschäftigt. Davon ist mehr als die Hälfte (85 Millionen) in den schlimmsten Formen tätig, die direkt die Gesundheit und seelische Entwicklung gefährden. 44 Prozent der Kinderarbeiterinnen und Kinderarbeiter (73 Millionen) sind erst zwischen 5 und 11 Jahre alt. Ein beachtlicher Teil der Kinder arbeitet zudem unter Zwang – schätzungsweise ein Viertel der weltweiten Zwangsarbeiter ist unter 18 Jahre alt. Und auch bei der Kinderarbeit sind Mädchen stärker betroffen als die Jungen.

Ein höchst profitabler „Wirtschaftszweig“

Zu definieren, ab welchem Punkt aus freiwilliger Arbeit Zwang wird, ist jedoch nicht einfach. Denn die Übergänge sind fließend. Viele Opfer wissen, dass sie ausgebeutet werden, denken aber, dass sie schuldig sind, zum Beispiel weil sie bestimmte Abgaben nicht geleistet oder einen Kredit aufgenommen haben. Andere verstehen sich oft gar nicht als verschleppt und ausgebeutet, haben sie doch anfangs selbst zugestimmt.

So ist es möglich, dass allein im privaten Sektor, der rund 90 Prozent der Zwangsarbeiter beschäftigt, jährlich 150 Milliarden US-Dollar illegaler Profite erwirtschaftet werden, davon allein 47 Milliarden in Europa und den anderen Industrienationen (ILO-Report „Profits and Poverty: The Economics of Forced Labour“). Dabei liegt der Profit in Industriestaaten um ein Vielfaches höher als in Entwicklungsländern. Ein Zwangsarbeiter in Europa erwirtschaftet durchschnittlich einen Jahresumsatz von fast 35.000 US-Dollar im Vergleich zu knapp 4.000 US-Dollar in Afrika. Die Kosten der modernen Sklaverei trägt die ganze Gesellschaft: Nicht nur wird ein unlauterer Wettbewerbsvorteil erzielt, der die Löhne drückt. Hinzu kommen die Ausgaben des Staates zur Bekämpfung von prekären Arbeitsverhältnissen sowie die fehlenden Steuereinnahmen und Sozialabgaben.

ILO-Instrumente

Vor diesem Hintergrund setzt sich die ILO auf verschiedenen Ebenen gegen alle Formen moderner Sklaverei ein. Das umfasst neben der konkreten Projektarbeit vor Ort (siehe Abschnitt „Blick in die Praxis“) insbesondere die Formulierung von Kernarbeitsnormen, mit denen die Staatengemeinschaft Zwangs- und Kinderarbeit bekämpfen und hinter sich lassen soll. Dazu gehören das Übereinkommen 29 über Zwangs- und Pflichtarbeit von 1930, das Übereinkommen 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit von 1957 sowie dieEmpfehlung 203 betreffend ergänzende Maßnahmen zur effektiven Beseitigung von Zwangsarbeit von 2014. Im Kampf gegen Kinderarbeit hat die ILO 1973 das Übereinkommen 138 über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung verabschiedet. 1999 folgte das Übereinkommen 182 über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit.

Auch Deutschland stellt sich den Tatsachen. Im Juli dieses Jahres hat der Bundestag ein Gesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels beschlossen. Damit sollen vor allem Kinder und Frauen besser vor der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft sowie Zwangsprostitution geschützt werden.

Infobox: 2017 – Neue Zahlen zur weltweiten Zwangs- und Kinderarbeit

Bei der Kinderarbeit konnte die ILO die Zahlen bisher schon sehr exakt ermitteln – dank eigener Erhebungen durch die Mitgliedsstaaten. Kinderarbeit ist, anders als Zwangsarbeit, gut sichtbar. Seit 2000 ist die Kinderarbeit weltweit kontinuierlich zurückgegangen. Die ILO analysiert zurzeit, warum und in welchen Regionen aufgrund welcher Politik dieser Fortschritt erzielt werden konnte. Deutliche Verbesserung wird es bei der Erfassung der Zwangsarbeit geben: 2017 liegen erstmals genügend nationale Umfrageergebnisse vor, um Zwangsarbeit mit einer statistischen Methode präziser zu messen. Hier war die Dunkelziffer bislang sehr hoch, da es sich um Verbrechen handelt, die viel zu oft im Verborgenen bleiben.

Moderne Sklaverei im Herzen Europas

Mitten in Europa spielt die Geschichte von Jonas, einem Familienvater, der am eigenen Leib Erfahrung mit Menschenhandel und Zwangsarbeit machen musste. Alles begann in seiner litauischen Heimat. Jonas hatte aufgrund von Arztrechnungen für eines seiner Kinder Schulden angehäuft. Arbeit vor Ort war schwer zu finden und schlecht bezahlt. Als er von einem Landsmann angesprochen und ihm ein gut bezahlter Job in Großbritannien versprochen wurde, inklusive eines Vorschusses für die Reise, schlug Jonas ein. Was folgte, war nichts anderes als moderne Sklaverei. Jonas musste sich mit mehreren anderen Arbeitern eine einfache Unterkunft teilen und auf dem Boden schlafen. Über 80 Prozent des Lohns für seine Fließbandarbeit in einer britischen Hühnchenfabrik behielten die „Vermittler“ ein – mit dem Hinweis auf Kosten für die Unterbringung und die noch nicht abbezahlte Reise. Widersprach er, wurde ihm Gewalt angedroht oder zugefügt. Er war gefangen. Erst als die „Gangmasters Licensing Authority“, eine staatliche Organisation zur Verfolgung bandenartiger Strukturen in bestimmten Wirtschaftsbereichen, die Missstände in der Fabrik aufdeckte, kam Jonas in Sicherheit.

Weitere Geschichten sind auf der ILO-Kampagnenseite „50forFreedom“ zu finden. Auf der Website kann zudem jeder eine Petition unterschreiben, die die Regierungen der Welt aufruft, das Protokoll zu unterzeichnen und umzusetzen.

Infobox: Kampagne „50forFreedom“ – Unsichtbares sichtbar machen

Mit der weltweiten Kampagne „50forFreedom“ will die ILO die Staatengemeinschaft dazu bewegen, den Kampf gegen Zwangsarbeit zu intensivieren. Dazu sollen 50 Mitgliedsstaaten bis zum Jahr 2018 das ILO-Protokoll von 2014 zum Übereinkommen über Zwangsarbeit ratifizieren. Das Protokoll enthält konkrete Maßnahmen zu Prävention, Schutz und Abhilfe. Herzstück der Kampagne ist es, jenen Menschen eine Stimme zu geben, die Zwangsarbeit in unserer Zeit erlebt haben. In Videos erzählen die Betroffenen selbst von ihrem Weg aus der Zwangsarbeit, oder Schauspieler schlüpfen in die Rolle und erzählen die persönlichen Geschichten auf berührende Weise nach, wie hier die US-amerikanische Schauspielerin Robin Wright.