ILO Köpfe: Shauna Olney, Leiterin der Gender, Equality and Diversity Branch (GED), über die Arbeitsbedingungen in der Care Economy

Milliarden Stunden unbezahlter Pflegearbeit leisten vor allem Frauen jeden Tag weltweit. Dabei wird die Bedeutung der Pflegewirtschaft aufgrund der demografischen Entwicklung deutlich zunehmen. Wie können Care Worker in gute bezahlte Arbeit gebracht werden und was leistet die ILO? Antworten darauf gibt Shauna Olney, die Leiterin der ILO Gender, Equality and Diversity Branch im Interview.

Artikel | 28. Juni 2018
Pflegearbeit ist unverzichtbar und wird hauptsächlich von Frauen geleistet, vor allem unbezahlt. Inwiefern hat das Einfluss auf den Zugang von Frauen zu guter, bezahlter Arbeit?

Die Fakten sind eindeutig: Die große Mehrheit der Pflegearbeit weltweit ist unbezahlt und wird vor allem von Frauen und Mädchen geleistet, von denen viele aus sozial benachteiligten Gruppen kommen. Unser Care-Report schätzt für 2018, dass täglich 16,4 Milliarden Stunden unbezahlter Pflegearbeit stattfinden. Das entspricht 2 Milliarden Menschen, die jeden Tag 8 Stunden ohne Bezahlung arbeiten. Drei Viertel dieser Arbeit erbringen Frauen, das sind dreimal so viel wie die Männer.

Natürlich kann Pflege bereichernd sein, aber nicht, wenn sie exzessiv ist und in Schinderei ausartet. Denn dann erschwert sie die ökonomischen Möglichkeiten und das Wohlbefinden unbezahlter Arbeitskräfte. Unsere Daten zeigen, dass 606 Millionen Frauen, im Gegensatz zu nur 41 Millionen Männern, dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen oder keine Arbeit suchen, weil sie bereits unbezahlte Pflegearbeit leisten. Die niedrigsten Beschäftigungsraten haben Frauen mit Kindern unter 5 Jahren. Anders gesagt: Millionen Menschen sind so damit beschäftigt, unbezahlte Pflegetätigkeiten auszuführen, dass sie gar nicht in der Lage sind, nach einer bezahlten Arbeit zu suchen oder, falls sie eine haben, darin aufzusteigen und voranzukommen.

Dabei wissen wir, dass Frauen bezahlte Arbeit wollen, überall auf der Welt. Das zeigen die Umfragen, die ILO mit Gallup in 142 Ländern und Regionen durchgeführt hat. Sie zeigen aber auch, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und der fehlende Zugang zu bezahlbarer Betreuung die wesentlichen Hindernisse sind, eine bezahlte Tätigkeit aufzunehmen. Eine große Zahl von Frauen könnte also in bezahlte Arbeit gebracht werden – durch eine breite Pflegeinfrastruktur, die dazu beiträgt, unbezahlte Pflegearbeit umzuverteilen und zu reduzieren.

Die Arbeitsbedingungen in der Pflege gehören oft zu den schlechtesten. Wenn wir davon ausgehen, dass der Bereich in Zukunft wichtiger wird, wie können wir menschenwürdige Arbeit sicherstellen?

Die Pflege ist eine wesentliche Beschäftigungsquelle, vor allem für Frauen. 381 Millionen Menschen, davon 249 Millionen Frauen, arbeiten hier weltweit. Doch viele dieser Tätigkeiten, etwa die Pflege am Menschen oder die Arbeit von Hausangestellten, werden immer noch als Verlängerung der unbezahlten Pflegearbeit verstanden, die Frauen zuhause oder in ihren Gemeinschaften leisten. Die Folge ist, dass ihre Arbeit extrem unterbewertet wird, was man an niedrigem Status, fehlender sozialer Anerkennung und schlechter Bezahlung erkennen kann.

Um das zu ändern, hat die ILO die Pflegearbeit ins Zentrum ihrer Jahrhundertinitiativen „Women at Work“ und „Future of Work“ gerückt. Unsere Ziele sind Geschlechtergerechtigkeit und menschenwürdige Arbeit für Pflegepersonen, inklusive Hausangestellten und migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern. Hierzu muss der Trend zu schlechten Arbeitsbedingungen, die im Übrigen auch zu schlechter Versorgung führen, gestoppt und umgedreht werden. Die ILO fordert die soziale Absicherung aller in der Pflege Tätigen, die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen, gleiche Bezahlung für gleiche und gleichwertige Arbeit, die Gewährleistung einer sicheren und motivierenden Arbeitsumgebung, eine stärkere Professionalisierung von Pflegetätigkeiten sowie das Recht, sich zu organisieren und Tarifverhandlungen zu führen.
Was sind die größten Herausforderungen und Chancen in der Care Economy in den nächsten Jahren?

Der demografische Wandel und die sich ändernden Familienstrukturen mit kleineren Familien und mehr Singlehaushalten werden die Nachfrage nach Pflegetätigkeiten drastisch ansteigen lassen. Deshalb müssen wir weg vom „Business as usual” und einen wirklichen Transformationsprozess einleiten. Die Herausforderung besteht darin, ausreichend Jobs zu schaffen und eine globale Pflegekrise zu verhindern, aber auch Jobs zu kreieren, die von hoher Qualität sind. Die Pflege hat dabei den Vorteil, anders als andere Branchen, dass sie von menschlicher Zuwendung abhängt. Das setzt der Technologie und einer möglichen Substitution von Arbeitsplätzen Grenzen.
Unser Bericht zur Pflegearbeit schätzt, dass die Verdopplung von Investitionen in der Pflegewirtschaft bis 2030 etwa 475 Millionen Jobs schaffen kann. Diese Investitionen würden nicht nur eine globale Pflegekrise abwenden, sondern viele Staaten auch in die Lage versetzen, einige der Nachhaltigen Entwicklungsziele zu erreichen, zum Beispiel „Gesundheit und Wohlergehen“, „Geschlechtergerechtigkeit“ und „Menschenwürdige Arbeit“. Der Kleinkindbetreuung und frühkindlichen Bildung sowie der Langzeitpflege werden die größten Beiträge zu diesem Jobpotenzial zugeschrieben.
Investitionen in dieser Größenordnung zu stemmen, verlangt von den Ländern allerdings deutlich mehr finanzielles Engagement. Es bedarf deshalb einer gemeinsamen Anstrengung von Regierungen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie der aktiven Einbeziehung von Vertreterinnen und Vertretern von Pflegenden, unbezahlten Pflegekräften sowie derjenigen, die Pflege in Anspruch nehmen.